Diversity-Interview: Zitat Paul Bucher, Pseudonym Diversity-Interview: Zitat Paul Bucher, Pseudonym
Zitat von Paul Bucher, Pseudonym (Bild: Kalaidos FH)

Gleichstellung und Inklusion von Menschen mit Behinderungen im Beruf sind vielerorts kein Thema. Wir wollten wissen, wie Menschen mit solchen Einschränkungen den Berufsalltag erleben und wie dieser inklusiver gemacht werden könnte. In dieser dreiteiligen Beitragsserie kommen Betroffene und eine Expertin für HR- und Diversity-Themen zu Wort. In diesem zweiten Teil lesen Sie das Interview mit Paul Bucher. Er ist chronisch erkrankt und tritt hier aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes unter einem Pseudonym auf. Der erste Teil ist der Stimme von Anne Gersdorf gewidmet. Sie hat eine körperliche Beeinträchtigung und ist deshalb mit dem Rollstuhl unterwegs. Michaela Christian Gartmann, HR-Leiterin PwC Schweiz, beleuchtet im dritten und letzten Teil das Thema aus Sicht der Arbeitgeberseite.

Paul Bucher, Sie arbeiten im Projektmanagement. In welcher Rolle?

Ich habe bereits verschiedene Rollen im Projektmanagement wahrgenommen. Am liebsten leite ich komplexe Projekte im Einkauf oder der Fertigung. Es ist spannend, immer wieder zu sehen, wie sich solche Projekte entwickeln und welche unvorhergesehenen Probleme auftreten können, die im Team gelöst werden. Manchmal ist es stressig, aber auch sehr befriedigend.

Können Sie uns kurz schildern, was Ihre Einschränkungen sind? Wodurch und wie lange sind Sie schon beeinträchtigt?

Ich habe eine Autoimmunerkrankung. Meines Wissens ist diese Erkrankung häufig genetisch bedingt. Sie bricht in unterschiedlichen Zeitabständen immer wieder aus und wechselt sich ab mit Phasen der Ruhe. Ich hatte wohl schon als Kind häufiger Bauchschmerzen. Festgestellt wurde die Erkrankung bei mir aber erst im Teenageralter. Ich fühle mich wenig eingeschränkt, weil ich es nicht anders kenne. Erst wenn ich mich mit vermeintlich "Gesunden" vergleiche, stelle ich fest, dass ich Einschränkungen habe. Aber wer vergleicht sich schon gern – und die "Gesunden" haben meist auch irgendetwas.

Können Sie sich an eine berufliche Situation erinnern, da es Ihnen zum ersten Mal so richtig bewusst wurde, dass Sie anders als die meisten anderen sind?

In beruflichen Situationen, also bei meiner Tätigkeit selbst, ist es mir noch nie aufgefallen. Es ist eher das "Drumherum". Beispielsweise als ich mich als Praktikant beim Unternehmen um eine Festanstellung beworben habe, sagte mein damaliger Vorgesetzter: "Wir müssen unbedingt schauen, dass dich HR nicht sieht. Die denken sonst, du hast irgendwas und dann stellen sie dich nicht ein." Das hat erst einmal gesessen und mir ist aufgefallen, wie stark man auch nach Äusserlichkeiten beurteilt wird. Es war aber auch eine sehr ehrliche Aussage, weil er wollte, dass ich auch mit Abschluss meines Studiums im Unternehmen bleibe.

Wenn ich heutzutage mit Arbeitskolleg/innen essen gehe, und sage: "Das darf ich nicht essen." oder "Das vertrage ich nicht.", fragt jede/r nach. Sagt man: "Das schmeckt mir nicht.", wird man als sehr wählerisch abgestempelt. So habe ich das Gefühl, es nie richtig machen zu können. Teamevents sind ein Spiessrutenlauf, geht man aber nicht hin, kommt es auch nicht gut an.

Wie ergeht es Ihnen bei solchen Erfahrungen?

Man fühlt sich unehrlich, weil man eine Art Doppelleben führt und das ist auch das, was mich bei der Arbeit gefühlsmässig am meisten behindert. Manchmal würde ich gern den Schleier lüften und im Büro sagen, dass ich eine körperliche Einschränkung habe. Doch ich habe Angst vor den Reaktionen. Fühlen sich die Kolleg/innen belogen? Enttäuscht, weil man ihnen nicht das Vertrauen entgegengebracht hat? Ich sage mir: Es ist besser, dass es niemand weiss. Wenn es jemand erfährt, wird man häufiger beobachtet und ich muss abfällige oder mitleidige Kommentare anhören wie: "Der hat wohl Bauchschmerzen."

Ist es schon vorgekommen, dass Ihr «Doppelleben» aufgedeckt wurde?

Ja, ein Vorgesetzter hat mal aufgrund meines Krankenhausaufenthalts über meine Beeinträchtigung erfahren. Darauf hat er mir einen schlechteren Job gegeben, den niemand machen wollte. Seine Begründung war, dass ich wieder ausfallen könnte. Ich sei ein Risiko. Er hat meine Erkrankung gegen mich verwendet. Ich hatte aber nach meiner Rückkehr nicht mehr Fehlzeiten als andere. Selbst meine Dienstreisen habe ich uneingeschränkt wahrgenommen. Den erhöhten Organisationsaufwand bekam auf der Arbeit niemand mit (Medikamente, Atteste auf internationalen Reisen, etc.). Es war eine schwierige Zeit und ich habe den Bereich gewechselt. Erst danach ist mir aufgefallen, wie stark mich diese Nicht-Akzeptanz und der Frust über den schlechteren Job belastet hat. Ich wurde einfach nicht mehr als die Person gesehen, die ich war, sondern auf eine Krankheit reduziert.

Was machen Sie, wenn Sie sich doch mal nicht so gut fühlen oder zum Arzt müssen?

Den Arztbesuch lege ich am liebsten auf Freitagnachmittag, wenn alle ins Wochenende gehen. Geht dies nicht, dann am liebsten morgens um 8 Uhr, so kann ich um 9 Uhr auf der Arbeit sein. Es ist aber nicht so, dass ich dauernd zum Arzt muss – ich gehe wahrscheinlich nicht viel mehr als andere auch, die mal Rückenschmerzen oder etwas anderes haben. Wenn ich mich nicht gut fühle, dann baue ich Überstunden ab, aber nur, wenn ich keine Termine habe.

Das Homeoffice erleichtert mir meinen Arbeitsalltag sehr. Ich kann mich zwischendurch hinlegen oder in einem bequemen Sessel arbeiten, mit dem Laptop auf den Knien. Zudem kann ich kochen, was ich gut vertrage. Ich muss mich selten krankmelden und wenn, nicht wegen meiner eigentlichen Erkrankung, sondern weil mich einer Grippe o.ä., erwischt hat.

Wie schwierig oder einfach ist es für Sie, im Arbeitsmarkt eine neue Anstellung oder eine selbständige Tätigkeit zu finden?

Es ist sehr schwierig. Insbesondere weil es im Projektmanagement sehr viel Konkurrenz gibt. Vielleicht sagen HRler oder Unternehmen etwas anderes. Ich sehe aber nicht, wie ich mich jetzt weiterentwickeln könnte. Und natürlich habe ich selbst im Hinterkopf, dass es mir gerade gesundheitlich sehr gut geht, dass es aber auch wieder schlechtere Phasen gibt. Damit stehe ich mir wahrscheinlich selber im Weg, schliesslich kann es jeden treffen, auf einmal zu erkranken. Sei es psychisch, an Long Covid, Krebs, usw. Es wäre schon eine Erleichterung, wenn mein berufliches Umfeld Verständnis für psychisch Erkrankte hätte. Sätze wie: "Der hält dem Druck nicht stand.", bauen bei mir Druck auf.

Was könnten Unternehmen tun, um das Thema der körperlichen, geistigen, psychischen oder körperlichen Beeinträchtigung zu «enttabuisieren»?

Das Thema dürfte keine Priorität haben. Wenn ein Unternehmen mit Diversity wirbt und beispielsweise sagt, dass es Personen mit chronischen Erkrankungen oder Behinderungen einstellt, ist das eine ehrenwerte Aussage. Doch ist sie ehrlich gemeint? Mit meinen gemachten Erfahrungen befürchte ich, dass es sich dabei um einen Trick handeln könnte, um Menschen wie mich auszusortieren.

Ich habe Kolleg/innen, die offen über psychische Erkrankungen sprechen. Das bewundere ich. Es wäre schön zu sehen, wenn diese Personen auch befördert würden, aber bislang ist das nicht passiert. Sie sind alle auf der Position geblieben, auf der sie vor der Erkrankung waren.

Es würde wahrscheinlich helfen, wenn mehr "Erkrankte" aus den Führungsetagen publik machen würden: "Schaut her, ich bin eine/r von denen!" Dann könnten "Gesunde" bzw. HR sagen: "Das hätten wir nicht gedacht – und er/sie macht ja wirklich einen guten Job! Es ist also ‘das Risiko wert’, Arbeitnehmende mit Beeinträchtigungen zu beschäftigen."

Was sollten Arbeitgeber tun, um Menschen mit Beeinträchtigungen vor Diskriminierung und ungleicher Behandlung zu schützen?

Ungleichbehandlung kommt bereits bei der Bewerbung vor. Ich habe einmal von einer Person gehört, die von HR nicht eingestellt wurde, weil sie offen kommuniziert hat, dass sie gerade von einer langen Erkrankung genesen und es der erste Job danach sei. HR meinte, sie könne sich gern später noch einmal bewerben, nachdem sie an einem anderen Ort Fuss gefasst hätte. Ich kann diese Reaktion sogar nachvollziehen: Wenn man jemanden einstellt, der dann vielleicht feststellt, dass er oder sie noch nicht "soweit" ist und wieder kündigt oder man ihm bzw. ihr kündigen muss – dann fängt der Bewerbungsprozess von vorn an. Zudem ist es für das Team eine grosse Belastung, längere Vakanzen aufzufangen. Die eigenen Leute sollen ja auch nicht "verheizt" werden. Wenn aber immer so gehandelt wird, wie sollen Menschen wie ich wieder einen Job finden? Damit werden sie in eine Schattenexistenz gezwungen oder müssen sich mit schlechteren Jobs zufriedengeben, obwohl wir mehr könnten.

Also können Arbeitgeber nicht viel dazu beitragen?

Ich denke, dass Arbeitgeber uns oft einfach unterschätzen. Chronisch krank oder behindert heisst ja nicht "dumm". Im Gegenteil, diese Personen haben auf ganz anderer Ebne Erfahrungen gesammelt, auf die sie zwar lieber verzichtet hätten. Aber die meisten sind unheimlich zäh und commited, ihren Job "gut" zu machen. Heute spricht man da von Resilienz. Viele von uns haben gelernt, sich ihre Energie einzuteilen und arbeiten fokussierter. Ich weiss nicht, wie ein Unternehmen uns gegen Diskriminierung und Ungleichbehandlung schützen kann, wenn es bereits beim Bewerbungsprozess anfängt. Es ist wahrscheinlich ein Umdenken von der Gesellschaft her erforderlich.

Unterstützend ist aber sicherlich das Angebot, Homeoffice machen zu können. Während der Pandemie haben viele Unternehmen gemerkt, dass es ganz gut funktioniert. Diskussionen über die Rückkehr ins Büro oder mögliche Kürzungen von Gehältern sind bei verstärktem Homeoffice fehl am Platz, weil wir da noch besser arbeiten können, auf unsere Weise gesund bleiben und damit dem Unternehmen einen Mehrwert bringen. Es hat schliesslich auch eine Fürsorgepflicht und die sollte die freie Wahl des Arbeitsplatzes miteinschliessen!

Was halten Sie von besonderen Leitlinien, Regeln oder einem Verhaltenskodex zum Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigungen?

Das hört sich spannend an. Wie könnte so etwas aussehen? Ich kann mir nicht vorstellen, was darin geschrieben steht. Papier ist geduldig, wer achtet darauf, dass es auch gelebt wird? Dass es auch Anwendung findet und nicht durch andere ausgenutzt wird, die sich von einer Erkrankung einen Vorteil versprechen, obwohl sie "kerngesund" sind?

Lieber Paul, herzlichen Dank für das Interview.

Autor/in
Anne-Kathrin Bolender

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Autor/in
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Irene Willi Kägi

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