Anne Gersdorff Anne Gersdorff
Anne Gersdorff (Bild: Andi Weiland)

Das Thema der Gleichstellung und Inklusion von Behinderten im Beruf ist vielerorts Tabu. Nach Definition des Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG, Stand 1. Juli 2020) handelt es sich dabei um Personen, deren körperliche, geistige oder psychische Beeinträchtigung es ihnen erschwert oder verunmöglicht, alltägliche Verrichtungen vorzunehmen, soziale Kontakte zu pflegen, sich fortzubewegen, sich aus- und weiterzubilden oder eine Erwerbstätigkeit auszuüben. Wir wollten wissen, wie Menschen mit Behinderung den Berufsalltag erleben und wie dieser inklusiver gemacht werden könnte. In dieser dreiteiligen Beitragsserie kommen zwei Betroffene und eine Expertin für HR- und Diversity-Themen zu Wort. Wir beginnen in diesem ersten Teil mit Anne Gersdorff. Sie hat eine körperliche Behinderung und ist deshalb mit dem Rollstuhl unterwegs. Der zweite Teil ist der Stimme von Paul Bucher gewidmet. Er ist chronisch erkrankt und tritt hier aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes unter einem Pseudonym auf. Michaela Christian Gartmann, HR-Leiterin PwC Schweiz, vertritt die Arbeitgeberseite und rundet mit ihrem Input die Serie ab.

Anne Gersdorff, Sie sind Projektreferentin bei Jobinklusive, einem Projekt der Sozialheld*innen. Welcher Tätigkeit gehen Sie da genau nach?

Die Sozialheld*innen sind Menschen, die ihr professionelles Know-how mit sozialen Themen verbinden. Wir setzen uns für eine gleichberechtigte Teilhabe von allen Menschen ein, mit einem Fokus auf Menschen mit Behinderungen. Als Projektreferentin bei Jobinklusive leiste ich Projektarbeit auf verschiedenen Ebenen. Dabei geht es darum, dass mehr Menschen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten. Ich bin Brückenbauerin zwischen Unternehmen, Menschen mit Behinderung und Organisationen, die Menschen mit Behinderungen unterstützen. Dafür mache ich auch Medienarbeit und Netzwerkarbeit, denn es gibt noch viel Unwissenheit in dem Bereich. Oder ich begleite und berate Unternehmen, die Unterstützungsmöglichkeiten suchen, damit Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt arbeiten können.

Können Sie uns kurz schildern, was Ihre Einschränkungen sind? Wodurch und wie lange sind Sie schon beeinträchtigt?

Ich kann mich kaum bewegen und sitze seit der Geburt in einem Elektro-Rollstuhl. Die medizinischen Ursachen sind nicht wichtig. Der Rollstuhl bedeutet keine Einschränkung für mich. Im Gegenteil, er gibt mir die Freiheit, mich zu bewegen. Nur die Umwelt, beispielsweise Treppen, und soziale Faktoren, wie Vorurteile, behindern mich.

Wann wurde es Ihnen zum ersten Mal so richtig bewusst, dass Sie anders als die meisten anderen sind?

Ich bin mit meiner Behinderung geboren. Das war für mich selten ein Problem, denn ich kenne nichts anderes und habe deshalb Umgangsstrategien. Dass ich nicht das gleiche machen kann wie andere, habe ich zum ersten Mal erfahren, als meine Schulfreund/innen in ein Auslandjahr gingen. Auch war es für mich schwierig, ein Praktikumsplatz zu finden. Ich bin jedoch in einem sehr privilegierten Umfeld aufgewachsen, bin in eine inklusive Schule gegangen und habe ein Studium gemacht. Meine Eltern haben mich befähigt, meine Rechte einzufordern. Jede/r hat das Recht auf Arbeit und die Inklusion von Menschen mit Behinderung ist ein Menschenrecht. Viele Menschen mit Behinderung, die nicht so gute Rahmenbedingungen haben wie ich, haben nicht die Ressourcen, öffentlich für ihre Rechte einzustehen. Sie begegnen vielen Barrieren und machen schlechte Erfahrungen mit Vorurteilen.

Können Sie völlig gleichberechtigt einer Arbeit nachgehen und fühlen Sie sich im Arbeitsleben vollständig inkludiert?

Damit ich gleichberechtigt leben und arbeiten kann, habe ich rund um die Uhr Assistenz. Das heisst, ich beschäftige acht Assistent/innen, die mich bei dem unterstützen, was ich selbst nicht kann. Ich führe sozusagen ein Schattenunternehmen und bin eine Managerin, ohne dass dies auf der Visitenkarte steht. Neben meiner eigentlichen Arbeit muss ich mich mit personellen Belangen beschäftigen, meine Assistent/innen suchen und einstellen, schauen, dass die Zusammenarbeit gut läuft sowie Urlaub und Elternzeit regeln. Darüber hinaus muss ich jedes Jahr die Assistenz neu beim Staat beantragen. Nur so kann ich meine Mitarbeitenden weiterbeschäftigen.

Was machen Sie, wenn Sie sich doch mal nicht so gut fühlen oder zum Arzt müssen?

Ich arbeite 25 Stunden die Woche und habe jeweils einen freien Tag, um solche Termine wahrzunehmen. Meine Arbeit ist jedoch im Allgemeinen gut einteilbar. Deshalb kann ich meine Arztbesuche auch mal auf einen anderen Tag legen. Ich habe aber etwas zwiespältige Gefühle dabei. Einerseits bin ich Managerin von einem Schattenunternehmen und andererseits möchte ich auch als Mensch wahrgenommen werden, der wegen seiner Fachlichkeit geschätzt wird und auch mal für eine Kollegin einspringen kann. Kommunikation und ein offener Austausch im Team sind aber super wichtig, nicht nur wenn es um Absprachen geht.

Wäre es für Sie einfach, eine neue Anstellung oder eine selbständige Tätigkeit zu finden?

Das kann ich so nicht sagen. Vermutlich aber schon schwerer als für Personen, die nicht benachteiligt sind. Die Sozialheld*innen sind zudem der Hammer! Da möchte ich mich auch weiterhin engagieren. Ich würde mich nur da bewerben, wo sie mich wirklich haben wollten. Die Behinderung gehört zu mir wie meine blonden Haare. Ich möchte einfach Menschen mit Behinderung die Wahrnehmung ihrer Rechte ermöglichen. Deshalb habe ich auch soziale Arbeit studiert. Natürlich gibt es einen Standortvorteil, wenn man wie ich in Berlin lebt. Es gibt viel mehr berufliche Möglichkeiten. Nur schon die Chance, eine Assistenz zu bekommen, ist hier schon viel grösser. Es gibt in dieser Hinsicht ein grosses Stadt-/Landgefälle.

Wie sollte denn eine Stellenausschreibung formuliert sein, damit Sie sich angesprochen fühlen?

Es gibt nicht die "eine" richtige Formulierung wie beispielsweise: "Wir freuen uns auch auf Bewerbungen von Menschen mit Behinderung." Eine Stellenausschreibung muss vielmehr authentisch sein und zum Unternehmen passen. Ideal wäre, wenn das Thema Behinderung oder Beeinträchtigung in der Schrift- und Bildsprache aufgenommen wird, Auf jeden Fall sollte zum Ausdruck kommen, dass man miteinander schaut, wie man als künftige/r Mitarbeiter/in gute Arbeit leisten kann.

Hat mit der Corona-Pandemie das Verständnis für Menschen mit einer Erkrankung oder Behinderung aus Ihrer Erfahrung zugenommen? Ist Corona gar eine Chance für mehr Gleichberechtigung und Inklusion?

Für Personen mit einer chronischen Erkrankung oder körperlichen Beeinträchtigung ist es zwar generell einfacher geworden, durch die Möglichkeit im Homeoffice zu arbeiten. Doch sind Behinderungen sehr vielfältig und es braucht einen gewissen Bildungsstand oder Skills, um mit einer zunehmend digitalisierten Welt zurechtzukommen. So ist es beispielsweise für Menschen, die nicht lesen können, schwierig, ohne fremde Hilfe an einem Video Call teilzunehmen.

Wie sollen Ihre Auftraggeber mit Ihnen umgehen?

Sie sollten als Erstes an die Barrierefreiheit denken und proaktiv auf mich zukommen. Wenn ich beispielsweise einen Auftritt in einem Unternehmen habe, erwarte ich, dass sie von sich aus mir wichtige Informationen geben wie: Führt eine Rampe auf die Bühne oder kann ich mich mit dem Rollstuhl überall bewegen? Sich klar äussern, was nicht möglich ist und fragen, was ich brauche, gehören auch dazu. Ausserdem wäre es wünschenswert, wenn meine Zuhörer/innen mich nicht auf mein äusseres Erscheinungsbild ("die kleine, blonde behinderte Frau") reduzieren, sondern meine Inhalte zu Inklusion und Unternehmenskultur ernst nehmen. Es ist äusserst wichtig, dass nicht nur Expert/innen und Pädagog/innen über Menschen mit Behinderung reden, sondern auch Menschen mit Behinderungen selbst zur Sprache kommen.

Was können Unternehmen tun, um das Thema der körperlichen, geistigen, psychischen oder körperlichen Beeinträchtigung zu "enttabuisieren"?

Menschen mit Behinderung oder einer Beeinträchtigung als Form der Vielfalt muss auf die Agenda von Unternehmen gestellt werden. Aus Studien weiss man, dass Vielfalt zu besseren Lösungen führt. Entscheidend ist, dass sich Unternehmen wirklich committen und Strukturen schaffen, welche Barrieren abbauen.

Was sollten Arbeitgeber tun, um Menschen mit Behinderungen vor Diskriminierung und ungleicher Behandlung zu schützen?

Das wichtigste ist, Barrierefreiheit zu ermöglichen. Beispielsweise müssen Kommunikationsmittel barrierefrei sein. Barrierefreiheit bedeutet aber je nach Art der Behinderung etwas anderes. Um vor Diskriminierung zu schützen, muss es für alle Mitarbeitende, nicht nur für Mitarbeitende mit Behinderung, ein anonymes Meldesystem geben. Dann sollten auch Mitarbeitende mit Behinderung echtes Feedback bekommen und nicht geschont werden. Es gibt kleinere Unternehmen, die das auf eine vorbildliche Weise tun, ohne gross darüber zu reden.

Was halten Sie von besonderen Leitlinien, Regeln oder einem Verhaltenskodex zum Umgang mit Menschen mit einer Behinderung?

In Deutschland sind Arbeitgeber, die im Jahresschnitt mindestens 20 Arbeitsplätze pro Monat haben, verpflichtet, wenigstens 5 Prozent Schwerbehinderte zu beschäftigen. Wenn sie diesem Gesetz nicht nachkommen, müssen sie jährlich eine Ausgleichsabgabe an das Integrationsamt entrichten. Damit schaffen sie einen finanziellen Ausgleich gegenüber den Arbeitgebern, die Schwerbehinderte beschäftigen und denen dadurch erhöhte Kosten entstehen. Arbeitgeber, die anerkannten Werkstätten für Menschen mit Behinderung Aufträge erteilen, können Ausgleichsabgaben bis zu einem gewissen Grad kompensieren.

Es ist sehr wichtig, dass sich Unternehmen nicht nur mit Gesetzen, sondern auch mit eigenen Leitlinien auseinandersetzen. Vor allem sollte es darum gehen, wie Prozesse und Strukturen gestaltet sein sollen, um Gleichberechtigung und Inklusion zu ermöglichen. Vielerorts stehen Unternehmen erst am Anfang. Auch für solche, die das Thema bereits erfolgreich umgesetzt haben, wird das Thema damit nicht abgehakt sein. Gleichberechtigung und Inklusion sind ein Prozess und nie fertig.

Liebe Anne, herzlichen Dank für das Interview.

Autor/in
Irene-Willi

Irene Willi Kägi

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Autor/in
Anne-Kathrin Bolender

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