Gruppe von Menschen diskutiert am Arbeitsplatz Gruppe von Menschen diskutiert am Arbeitsplatz
Organisationen und Unternehmen müssen Strukturen schaffen, in denen Arbeitnehmende regelmässig über ihre Zusammenarbeit reflektieren. (Symbolbild)

Im dritten und letzten Teil dieser Blogbeitragsreihe zu "Radical Collaboration" kommen zwei Experten und eine Expertin zu Wort. Sie nutzen diesen Ansatz der Zusammenarbeit, um Unternehmen und Organisationen hin zu einer nachhaltigen Kollaborationskultur zu begleiten. Gleichzeitig nutzen sie den Ansatz auch bei sich in ihrer eigenen Organisation: Nicoletta Lumaldo, Severin von Hünerbein und Oliver Müller, alle zertifizierte Radical Collaboration Trainer und Berater:innen.

Vielen Dank, dass Ihr euch Zeit für das Interview genommen habt, um uns an euren Erfahrungen teilhaben zu lassen. Wieso habt ihr Radical Collaboration mit in euer Repertoire aufgenommen?

Wir hatten festgestellt, dass wir die Vision unserer eigenen Organisation nur durch mehr Kollaboration und eine vertiefte Form der Zusammenarbeit umsetzen können. Demzufolge haben wir Radical Collaboration als einen der fünf Kernwerte von euforia definiert. Um mehr Zusammenarbeit in die Welt zu bringen, mussten wir dies jedoch zuerst selbst praktizieren. Daraufhin haben wir uns kollektiv in der Methode Radical Collaboration ausbilden lassen, damit wir dies einerseits intern anwenden und weiterentwickeln können und andererseits Organisationen auf dem Weg in eine nachhaltige Zukunft unterstützen können.

Ist der Begriff «Radical Collaboration» in sich nicht ein Gegensatz? (radical = extrem & rigoros, Collaboration = zusammenarbeiten & in Verbindung treten)

Auf Deutsch scheint dies ein Widerspruch zu sein, weil “radikal” bei uns diese negative Konnotation von “extrem” und “zerstörerisch” hat. Das englische Wort hingegen hat eine andere Bedeutung. Der Satz “The new manager has made some radical changes.” würde auf Deutsch mit “Der neue Manager hat ein paar grundlegende Veränderungen durchgeführt.” übersetzt.

Es ist bekannt, dass eine gute Zusammenarbeit zu höherer Motivation der Mitarbeitenden, besserer Leistung und innovativen Ideen führt. Trotzdem verhindern diverse Hürden in vielen Unternehmen und Organisationen eine gute Zusammenarbeit. Warum ist das eurer Erfahrung nach so?

Wir kennen einfach fast nichts Anderes als Wettbewerb mit einer Win-Lose-Definition von Erfolg, wir sind von klein auf darauf getrimmt. Aggressive oder defensive Verhaltensmuster sowie spezifische Glaubenssätze sitzen sehr tief in uns fest und sobald wir in eine Krisensituation kommen, greifen wir darauf zurück. Dieses Wissen hätten sich viele unserer Teilnehmer:innen schon in der Schule gewünscht.

Eine grosse Hürde besteht also darin, in Konfliktsituationen und unter Stress immer noch die Achtsamkeit zu behalten, das eigene Verhalten zu reflektieren und dann die effektivste Form der Zusammenarbeit anstelle der vertrautesten zu wählen.

Eine zweite grosse Herausforderung sehen wir darin, dass in Organisationen zu wenig am gemeinsamen Ziel gearbeitet wird. Wenn nicht klar ist, wohin die Zusammenarbeit führen soll, wie können wir uns dann auf eine effektive Zusammenarbeit einigen?

Als dritte Hürde sind Strukturen und Praktiken zu nennen, die nicht für Kollaboration geschaffen sind. Eine hochgradig individuell «incentivierte» Organisation wird Mühe haben, gute Teamarbeit zu installieren. In Meetings, in denen nur die “highest paid person in the room” die Entscheidungen trifft, lohnt es sich für die Einzelnen nicht, sich mit ihren vielleicht anders gelagerten Ideen zu exponieren. Darüber hinaus fehlt oft die psychologische Sicherheit, dass einzelne Mitarbeitende frei ihre Meinung teilen würden. So bleibt viel Innovations- und Verbesserungspotential auf der Strecke.

Woran merkt man, ob ein Unternehmen sich in der roten, pinken oder grünen Zone befindet?

Ein Unternehmen befindet sich nie in nur einer Zone. Die Zonen stellen keine Charakterzüge dar - weder für Organisationen, noch für Menschen. Eine Organisation ist nicht rot, Menschen sind nicht pink. Das einzelne Verhalten ist grün, rot, pink (siehe Teil 1 dieser Blogbeitragsreihe: «Mit Radical Collaboration Kulturbewusstsein schärfen»). Um zu schauen, wo wir unsere Zusammenarbeit verbessern können, hilft es, nach Verhalten Ausschau zu halten.

Wir bitten Teilnehmende in Inhouse Trainings, jedes Verhalten, das sie in ihrer Organisation erkennen, auf ein Post-it zu schreiben und an eine Wand zu kleben. Das ergibt ein erstes Stimmungsbild, wo die Organisation in den Augen dieser Gruppe steht.

Dann bitten wir sie, dasselbe für ihr eigenes Verhalten zu tun. Im Dialog werden so die Felder mit dem grössten Bedarf sichtbar, und die Menschen erkennen, was sie selber dazu beitragen, und können so Verantwortung für einen Wandel übernehmen.

Was können Unternehmen selber tun, um ein fruchtbares Umfeld für Kollaboration zu gestalten? Welche konkreten Ansatzpunkte mit grösstem Impact seht ihr?

Für Jim Tamm, Mitbegründer des Radical-Collaboration-Ansatzes, ist es ganz klar: Er nennt es “The biggest bang for the buck” und meint damit den richtigen Umgang mit den eigenen Schutzmechanismen. Wenn wir defensiv werden, folgen wir Verhaltensmustern, die vom Kleinhirn gesteuert werden, denn dort sitzt die Angst. Wir beginnen zu kämpfen, möchten fliehen oder geben einfach auf. Wir werden auf jeden Fall dumm und unkreativ - also das Gegenteil von dem, was für gute Zusammenarbeit wichtig ist. Das Schlimmste daran ist: Dieses defensive Verhalten ist ansteckend. Ist eine Person in einem Meeting defensiv, überträgt sich diese Angst auf alle anderen, sie werden unbewusst auch defensiv. Als Erstes, gilt es, sich über die eigenen defensiven Anzeichen und Muster bewusst zu werden und Kontrolle darüber zu erlangen. Wie wir diese stoppen können und uns Pläne zurechtlegen, wie wir mit diesen Situationen umgehen wollen, ist etwas, das wir in den Trainings sehr intensiv üben.

Als zweites wichtiges Element einer positiven Kollaborationskultur sehen wir die Art und Weise des Zuhörens. Wir nennen es die “Tell-me-more”-Haltung, ein Zustand von echter Neugier. Wenn es die Leader in einer Organisation schaffen, wirklich zuzuhören, um zu verstehen und nicht, um zu antworten, dann ändert sich das Klima in der Zusammenarbeit. Es entstehen sichere Räume, in denen die Menschen mit ihren Ideen eine gemeinsame Zukunft gestalten können.

Als Drittes möchten wir kleine Umdeutungen in unseren Glaubenssätzen nennen. Dafür müssen wir zuerst gewisse festgelegte Wahrheiten als das erkennen, was sie sind: Glaubenssätze, die wir selber geschaffen haben und somit auch geändert werden können. Ein solcher ist beispielsweise, dass Konflikte schwierig, zerstörerisch und anstrengend sind. Wenn wir beginnen, Konflikte als Zeichen von Potentialen zu erkennen, als Signale eines Ist-Zustands, die nach einem besseren Soll-Zustand rufen, dann erhalten Konflikte plötzlich eine positive Bedeutung. Sie können viel einfacher offen angesprochen werden.

Wie kann man Menschen unterstützen, mehr in diese Art von Selbstverantwortung zu gehen?

Zuallererst möchten wir betonen, dass Eigenverantwortung und auch die anderen Fähigkeiten von Radical Collaboration keine moralischen Positionen darstellen. Wir erleben sie vielmehr als Einladungen, selbst Experimente zu wagen. Unsere Erfahrung zeigt, dass die Übernahme von Selbstverantwortung oder mehr Offenheit zu besseren Ergebnissen führt - sowohl nach aussen in Bezug auf Effektivität der eigenen Wunsch- und Zielerreichung als auch nach innen bezüglich Zufriedenheit und Erfahrung von Selbstwirksamkeit.

Es geht also nicht um ein “Sollen” oder “Müssen”, sondern um ein “Mögen”, die positiven Effekte für sich selbst erlebbar zu machen. Das findet beispielsweise in den sicheren Räumen der Radical-Collaboration-Trainings statt. Ob Menschen gerne Eigenverantwortung übernehmen, hängt oft damit zusammen, wie sie dazu eingeladen werden.

Menschen, die beispielsweise ihre eigene Wirksamkeit tief einschätzen und grosse Angst vor einer Demütigung haben, fällt es vielleicht sehr schwer, Eigenverantwortung zu übernehmen. Wenn wir als Organisation also mehr Eigenverantwortung anstreben, stellt sich die Frage, wie wir zusammen diese Ängste in den Raum holen und darüber sprechen können und wie wir sichere Räume schaffen, um die positiven Effekte von Eigenverantwortung zu erleben. Das schafft nachhaltige Veränderung bei den Einzelnen und in der Summe in der gesamten Organisation.

Oft ist man bei Projekten anfänglich enthusiastisch, sei es, weil sie intern hoch priorisiert sind oder weil ihre Sponsoren und Zugpferde zu Beginn volles Commitment zeigen. Was ist zu tun, damit die Ansätze von Radical Collaboration nachhaltig und langfristig wirken?

In den Radical-Collaboration-Trainings verwenden wir eine Metapher für gute Zusammenarbeit: “Am Ball bleiben - immer zum Messegespräch gehen." Damit meinen wir, dass wir jede Gelegenheit für Austausch, für die Überprüfung unserer Annahmen und für Abstimmung nutzen sollen, weil wir nur gewinnen können. Um die Ansätze nachhaltig und langfristig zu verankern, benötigen wir mehr solche Räume.

Zudem muss die Arbeit an der Zusammenarbeit als Arbeitszeit gesehen werden - nicht nur aus humanistischer Perspektive, sondern weil die Führung und die Organisation davon überzeugt ist, dass uns dies als Organisation langfristig überlebensfähiger macht. Wir müssen also Strukturen schaffen, in denen wir regelmässig über unsere Zusammenarbeit reflektieren.

Dies können monatliche Governance Meetings, Retrospektiven, Team-Retraiten oder Ähnliches sein. Wir empfehlen, diese Räume nicht nur als einzelne Gefässe zu sehen, sondern diese in den operativen Teil der Organisation einzupflanzen. Wir bei euforia starten jedes Meeting mit einem “Check-in”, einer Runde, in der jede Person nach und nach zum Sprechen eingeladen ist und in der wir uns im Teilen unserer momentanen Verfassung üben.

Wir schliessen mit einer Runde “Check-out”, das der Evaluation des Meetings dient und Hinweise liefert, wie wir unsere Zusammenarbeit verbessern können. Diese Check-ins und Check-outs sind strukturelle Räume, in denen wir kollaborative Absicht, Offenheit, Erkenntnis unser selbst und anderer sowie Eigenverantwortung üben. So trainieren wir tagtäglich unsere Muskeln, bis es zu einer ganz natürlichen Haltung wird.

Herzlichen Dank an alle Drei für das Interview und weiterhin viel Energie für eure Arbeit!

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Lesen Sie auch Teil 1 und Teil 2 dieser Blogbeitragsreihe:

Mit "Radical Collaboration" Kulturbewusstsein schärfen (1/3)

Mit "Radical Collaboration" zur besseren Selbstkenntnis (2/3)

Quellen und weiterführende Informationen

Euforia (o.D.). Radical Collaboration.

RC Group LLC. (o.d). Three different ways.

Thamm, J.; Luyet, R. (2019). Radical collaboration – Five skills to overcome defensiveness and build successful relationships. (2nd edition). Harper Business: New York.

Autor/in
Annette Fink

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