Gestärkt aus der Krise: mehr Antifragilität statt Resilienz
Irene Willi Kägi
Lehrt uns COVID-19, dass Agilität und Resilienz nicht die einzigen Fähigkeiten sind, die Organisationen brauchen, um in Krisen zu überleben? Ist Antifragilität das neue Rezept für Krisenresistenz? Laut Nassim Nicholas Taleb, Autor von "Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen", verhilft genau diese Fähigkeit Unternehmen zu ungeahnten Entwicklungsschüben und sichert damit ihre Überlebensfähigkeit in Krisen. Was es damit auf sich hat, soll der Einblick in das nicht ganz neue Konzept offenbaren.
Warum Glück, Robustheit und Resilienz nicht genügen
Eine Vielzahl von Unternehmen sind rein branchenbedingt härter von der Covid-Pandemie betroffen als andere: Als Hotel oder Unterhaltungsbetrieb haben Sie wahrscheinlich Schwierigkeiten, sich von der Covid-Krise zu erholen, da die Nachfrage nach Ihren Angeboten drastisch und "dauerhaft" gesunken ist. Sind Sie in den Bereichen Online-Einzelhandel, Technologie oder Telemedizin beschäftigt, erleben Sie zurzeit bestimmt regelrechte Höhenflüge. In diesem Fall haben Sie vielleicht nur Glück gehabt und werden bei der nächsten Krise zu den Pechvögeln gehören.
Wollen Sie es nicht dem Zufall überlassen, ob Krisen sich zu Ihren Gunsten oder Ungunsten auswirken, müssen Sie allen voran über die Kernkompetenz Antifragilität verfügen – so Taleb. Der Forscher und ehemalige Börsenhändler sieht in der Antifragilität "… mehr als Resilienz oder Robustheit. Das Resiliente, das Widerstandsfähige widersteht Schocks und bleibt sich gleich; das Antifragile wird besser." Mit anderen Worten: Robuste Systeme widersetzen sich äusseren Faktoren bis zu einem gewissen Grenzwert, danach zerbrechen sie. Resiliente Systeme werden durch Krisen, Stressoren und unvorhergesehene Ereignisse geschwächt und pendeln sich dann wieder auf dem vorherigen Niveau ein. Antifragile Systeme blühen in einem solch unbeständigen, "gefährlichen" Umfeld auf und entwickeln sich weiter.
Antifragilität in organischen Systemen
Um den hohen Stellenwert von Antifragilität in Organisationen zu veranschaulichen, lohnt sich der Vergleich mit einem Phänomen, das in organischen Systemen vorkommt: Wenn Sie als "Nichtfussballer/in" einen harten Schlag aufs Schienbein kriegen, kann es durchaus brechen. (Fragilität). Sind Sie Hobbyfussballer/in, hat Ihr Bein schon öfters härtere und weniger harte Schläge abgekriegt und sich der Belastung angepasst (Resilienz). Als Profifussballer/in sind Sie regelmässig solchen Stressoren ausgesetzt und Ihr Schienbeinknochen hat an Knochendichte gewonnen. Ihr Bein hält noch stärkere Belastungen aus als zuvor (Antifragilität).
Antifragilität zeigt sich auch als überlebenswichtiges Phänomen in der Meeresbiologie: Im Jahr 1998 sorgte eine starke Veränderung der Meeresströmung (El Niño) im tropischen Pazifik für eine anhaltende Erwärmung vieler Weltmeere. Bis zu 90 Prozent der Korallenriffe auf den Malediven starben ab (Fragilität). Seither erholen sie sich wieder (Resilienz). Ja, es entstehen sogar neuartige Korallensorten, die sich in besonders warmen Wassertemperaturen entfalten (Antifragilität).
Wie Organisationen Antifragilität aufbauen
Und wie entsteht Antifragilität in Unternehmen und Organisationen? Ähnlich wie in der Natur. Durch das ständige "Ausgesetzt-Sein" mit dem Unbeständigen und Zufälligen. Dazu gehören nicht nur positive Ereignisse, sondern auch Misserfolge und Beinahe-Unfälle. Wichtig ist, dass Sie und Ihre gesamte Belegschaft die Absicht hegen, sich stetig zu verbessern:
- Entwickeln Sie also eine (Lern-)Kultur in Ihrem Unternehmen, die sich durch eine positive Haltung gegenüber Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität (VUCA) auszeichnet. Durch das Voraussagen, Vermeiden oder Ausschliessen von Unsicherheiten und Volatilitäten werden Sie nicht an Antifragilität zulegen, sondern vielmehr durch die gemeinsamen praktischen Erfahrungen mit VUCA im Team.
- Pflegen Sie einen konstruktiven Umgang mit Fehlern statt Fehler möglichst zu vermeiden. Widerstehen Sie der Versuchung, alle Probleme selbst zu lösen, sondern lassen Sie diese möglichst direkt von den Betroffenen lösen.
- Erkennen Sie als Unternehmensleiter/in die durch COVID-19 induzierten Veränderungen der Märkte und Kundenerwartungen sowie Trends. Bewerten und verstehen Sie, wie diese Faktoren ihr Geschäftsmodell beeinflussen. In einem sich ständig verändernden Umfeld ist es wichtig, auf Entwicklungen schnell zu reagieren und sich entsprechend neu zu positionieren. Dies verschafft Ihnen als mutigen "First-Mover" einen Vorteil gegenüber der Konkurrenz.
- Scheuen sich nicht davor, Geschäftsmodelle zu transformieren und grössere organisationale Veränderungen vorzunehmen. Setzen Sie Ihr Unternehmen so auf, dass es Misserfolge wegstecken kann und allenfalls nur minimalen Schaden trägt. In einer dezentralen Organisation mit kleineren Einheiten, agilen Projekten, hoher Entscheidungsbefugnis der Mitarbeitenden und gemeinsamen Regeln gelingt das eher.
- Eignen Sie sich sowohl auf individueller als auch auf Unternehmensebene eine digitale Denkweise an. Das heisst, nicht nur technisch versiert zu sein, sondern auch die Macht der Technologie zu verstehen und welche Möglichkeiten sich dadurch für Ihr Unternehmen eröffnen.
- Schaffen Sie nach extremen Belastungsphasen ruhige Phasen, Freiraum und Rückzugsmöglichkeiten für Ihre Mitarbeitenden. Manchmal entstehen in dieser Zeit die kreativsten Lösungen. Für das zukünftige Überleben in einer digitalen Welt ist es notwendig, günstige Rahmenbedingungen für Innovation zu schaffen.
Fazit
Vielleicht sagen Sie jetzt, Antifragilität ist bloss alter Wein in neuen Schläuchen. Schliesslich gab es schon immer Menschen und Unternehmen, die in einer Krise über sich hinauswachsen. Die Frage bleibt, ob dies dem glücklichen Zufall, guten Genen oder bewussten Verhaltensweisen zuzuschreiben ist.
Egal ob alt oder neu – "Antifragilität" ist ein praxisorientiertes Konzept, das nicht jedem bekannt sein dürfte und der Resilienz ein i-Tüpfelchen verleiht. Der Weg von der Fragilität hin zur Antifragilität bedeutet letztendlich evolutionsbedingter Fortschritt. So wie in der Natur unter "veränderten" Bedingungen neuartige Korallenriffe heranwachsen, bringen Unternehmen unter dem anhaltenden Druck der Krise nicht nur Adaptionen, sondern auch ganz neue Lösungen und Wege hervor.
Statt den alten Zustand wiederherstellen zu versuchen, kann es sich also lohnen, der ureigenen Anpassungsfähigkeit und Innovationskraft zu vertrauen. Damit schaffen Sie es möglicherweise, wieder gestärkt aus der Krise aufzutauchen und Ihr Unternehmen in einer höheren Sphäre weiterzuentwickeln.
Quellen und weiterführende Informationen
Taleb, N. N. (2018). Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen. München: Pantheon.
Originalausgabe: Taleb, N. N. (2012). Things That Gain from Disorder. New York: Random House.
Bolton, R. (2021). The Road to New Reality. Part Two of a Three Part Series. Beyond organizational agility. KPMG.
Bork, G. (2020). Warum agil, wenn es antifragil gibt? t2informatik.
Kearney, J. & Nicholson, D. (2020). Maldives Coral Springs Back to Life. Maldives Traveller.
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CAS FH in Organisationsentwicklung und -beratung
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CAS FH in Leading Change
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