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Influencerin bei der Arbeit: Wie wirkt sich die ständige Interaktion mit der digitalen Welt auf den Menschen aus? (Symbolbild)

Seit der Corona-Pandemie ist die Digitalisierung in aller Munde. Dazu gehören auch verwandte Themen wie die künstliche Intelligenz ("machine learning"), Industrie 4.0, Blockchains, digitale Transformation, Natural Language Processing (NLP), Quantum Computing, neue Ökosysteme, digitale Geschäftsmodelle, Cyber Security und viele mehr. Im Prinzip sind diese Themen aber nichts Neues, sondern sie haben sich sukzessive im letzten Jahrhundert entwickelt und haben nach der Jahrtausendwende nochmals an Schwung zugenommen. Die Szene wird eindeutig von IT-Experten dominiert und von den Betriebsökonomen schlagkräftig in verwertbare Anwendungsmöglichkeiten transformiert.

Was dabei aber allzu oft vergessen geht, ist der wichtigste Dreh- und Angelpunkt überhaupt: der Mensch. Die technologischen Mittel werden nämlich erschaffen und dauernd weiterentwickelt, um die menschlichen Bedürfnisse immer besser abzudecken. Dabei erleben wir aber nicht nur eine Evolution der Technologie, sondern der Mensch verändert sich durch die digitalen Interaktionen laufend mit. Und damit verändert sich auch unaufhaltsam die Gesellschaft.

Die sozialen und digitalen Interaktionen verstehen

Ob wir innehalten oder einer aktiven Tätigkeit nachgehen – wir sind laufend Einflüssen aus unserer eigenen Gedankenwelt oder vom äusseren Umfeld ausgesetzt, wobei beide Ebenen aufeinander einwirken. Aus diesem Grund nennt man sie "interdependent" und Kognitionswissenschaftler/innen sprechen hier von "interozeptiven" und "exterozeptiven" Signalen, welche Neurowissenschaftler/innen im Gehirn messen können. Wir können diese Interaktionen im Blickpunkt der Digitalisierung auf vier Dimensionen aufschlüsseln:

  • Der Mensch interagiert mit seiner eigenen Gedankenwelt
  • Der Mensch interagiert mit anderen Menschen (beziehungsweise mit der Gesellschaft)
  • Der Mensch interagiert mit der (materiellen) Welt
  • Der Mensch interagiert mit der Technologie

Kleopatra und Sabrina klären uns auf

Die ersten drei Dimensionen existieren eigentlich bereits seit es denkende Menschen gibt. Heute werden diese Interaktionen aber noch zusätzlich durch die digitalen Wechselwirkungen mitgeprägt. Lassen Sie mich dies anhand konkreter Beispiele nachzeichnen: Kleopatra, die antike Königin von Ägypten, hat bestimmt hin und wieder in einen Spiegel geschaut und sich gefragt: "Sind meine Haare heute schön?" Man kann sich leicht vorstellen, dass sie ein paar Minuten darüber ruminiert hat, ob sie wieder einmal eine neue Frisur ausprobieren möchte. Sie war also mit sich selbst beschäftigt und hat sich in erster Linie mit ihrer eigenen Gedankenwelt auseinandergesetzt.

Auch heute können wir uns gut eine junge Teenagerin vorstellen, nennen wir sie Sabrina, die auf Instagram eine Story publiziert, wo sie sich lange überlegt, welchen Filter sie für das Bild verwenden soll. Die diversen Filter provozieren in ihr die Fragen: "Welcher Filter macht mich schön? Darf man mich überhaupt ohne Filter online sehen? Bin ich insgesamt überhaupt schön?" Sie entscheidet sich zum Trotz dazu, heute einmal ohne Filter und ungeschminkt aufzutreten – das Hashtag #nofilter kommt ihr da gerade Recht.

Während Kleopatra noch physisch mit anderen Menschen und ihrem Volk in Kontakt treten musste, hat Sabrina soeben via Zoom eine Vorlesung abgesessen, weil sie keine Lust hatte, an die Uni zu gehen, und nun sitzt sie im Tram zum Zentrum der Stadt und schreibt via Whatsapp ihrem Freund, dass sie etwas zu spät zu ihrer Verabredung erscheint. Dabei schaut sie wechselseitig auf Instagram nach, was ihre Freunde heute so gemacht haben und blickt kurz in eine Online-Zeitung rein, um zu sehen, ob heute etwas Spannendes unter den Promis geschehen ist. Das passiert alles auf dem Handy natürlich. Die Interaktion mit anderen geschieht blitzschnell und da alles so spontan funktioniert, fühlt sie sich auch nicht schlecht, dass sie etwa eine Viertelstunde zu spät zu ihrem Date erscheint.

Als Erweiterung zur Interaktion mit der Gesellschaft können wir die Interaktion mit der materiellen Welt betrachten. Stellen wir uns auf der einen Seite Kleopatra in einer Bibliothek vor, die spärliches Wissen über die Anatomie des Menschen zusammensucht. Sie ist fasziniert davon, dass wir überhaupt etwas über unser Inneres wissen können. Auf der anderen Seite hat Sabrina heute in der Vorlesung gelernt, wie man das genetische Material von diversen Spezies statistisch auswertet. Die Informationen liegen online auf Gen-Datenbanken vor, können heruntergeladen und am Computer analysiert werden. Sie hat sogar vor kurzem einen eigenen Gentest über die Firma "23andMe" gebucht und die Auswertungen kann sie über die App auf ihrem Handy aufrufen. Der Blick auf die Welt sieht zwischen Sabrina und Kleopatra schon ziemlich anders aus.

Kleopatra blieb eine vertiefte Auseinandersetzung mit den digitalen Technologien verwehrt. Sabrina stellt sich dagegen langsam die Frage, ob sie mal eine Bildschirmpause braucht, denn sie fühlt sich durch die konstante Verfügbarkeit regelmässig gestresst. Hier muss sich Sabrina Gedanken über ihre Interaktion mit der Technik bzw. mit ihrem digitalen Verhalten machen. Ein kritischer Blick darauf bietet uns unter anderem die Geisteswissenschaft.

Die digitalen Geisteswissenschaften und die Ethik

Die Geisteswissenschaften untersuchen den Menschen als geistiges Wesen und erforschen, welche Dynamiken sich hierdurch für das Individuum und die Gesellschaft ergeben. Von der Geschichte, Politik, Religion bis hin zur Philosophie und Ethik finden sich hier eine breite Palette von Disziplinen wieder. Die Auswirkungen der Digitalisierung auf das Wesen des Menschen und die vier oben genannten Interaktionsdimensionen werden in den sogenannten "digital humanities" (auf Deutsch: digitale Geisteswissenschaften) untersucht. Im Prinzip gibt es in dieser Disziplin zwei Stossrichtungen, nämlich die Anwendung digitaler Methoden auf Phänomene der Geisteswissenschaften (z.B. Scannen und digitale Analyse antiker Texte) und die kritische Begutachtung der modernen digitalen Entwicklungen (z.B. Kritik an dem Einfluss der künstlichen Intelligenz auf unser Verhalten). In der Philosophie hat sich daher die "digitale Ethik" herauskristallisiert, welche breit diskutiert, nach welchen ethischen Leitlinien wir mit den digitalen Technologien umgehen sollten und wo wir sinnvolle Grenzen setzen müssten.

Mit dem technologischen Fortschritt ist auch eine Weltanschauung entstanden, die glaubt, dass in Zukunft Mensch und Maschine verschmelzen werden und eine Art Symbiose bilden. Diese Idee wird "Transhumanismus" genannt und erste Anzeichen sehen die Vertreter in den aufkommenden Wearables, Augmented-Reality-Brillen oder Elektroden, die gewisse Menschen bereits im Gehirn tragen wollen. Inwiefern die digitalen Medien unser Denken beeinflusst, untersucht die kognitive Neuropsychologie.

Die kognitive Neuropsychologie

Mittlerweile ist es klar: Digitale Medien beeinflussen die Art und Weise wie wir denken, Informationen verarbeiten und uns fokussieren. Die sozialen Medien sollen uns in Windeseile unterhalten und somit kann ein TikTok oder Instagram Reel nicht länger als eine Minute dauern. Generell gilt: Wenn in den ersten Sekunden kein Lacher oder keine spannende Pointe folgt, klickt man schnell weiter. Die Aufmerksamkeitsspanne ist damit im Begriff drastisch reduziert zu werden. Das Akronym TLDR ("too long, didn’t read") hat sich in diesem Zusammenhang auf den Online-Plattformen etabliert. Neuropsychologen untersuchen hier die Wechselwirkungen mit dem menschlichen Gehirn und diese sollen in einer neuen Disziplin – der Psychologie der Digitalisierung – verstärkt analysiert werden.

Der sogenannte "aktive Externalismus" ist eine kognitive Theorie, die bereits vor ein paar Jahren bekannt wurde. Sie steht in Zusammenhang mit der Philosophie des "erweiterten Geistes" und sie besagt, dass unser Gehirn digitale Instrumente als eine Art verlängerter Arm benutzt. Beispielsweise merken wir uns gewisse Dinge bewusst nicht, sondern lernen stattdessen vielmehr, wo wir schnellstmöglich die Informationen ablegen und aufrufen können. Früher haben wir beispielsweise noch gewisse Handynummern auswendig gelernt, damit wir unsere VIPs auf jeden Fall erreichen. Aber lernen Sie heute noch Telefonnummern auswendig? Wohl eher nicht. Das hindert Sie aber indes nicht, mit Ihren Freunden in Kontakt zu treten, nicht wahr?

Fazit: das Erlernen einer kritischen Perspektive

Die Digitalisierung und die damit verbundene künstliche Intelligenz bringen nicht nur spannende neue Möglichkeiten, sondern auch neue Herausforderungen mit sich. In der KI-Bilderstellung können auf Knopfdruck fotorealistische Bilder erstellt werden. Sie sehen zwar aus wie Fotos von einem Augenzeugen, doch wurden sie vom Computer auf Wunsch des Benutzers frei erfunden. Doch welchen "Fotos" können wir nun trauen? Sind Bilder von einem Kriegsschauplatz echtes Zeugenmaterial oder erfundene Kunst? Worauf basieren wir noch unser Vertrauen und wie können wir Fake News im Internet von der Wahrheit unterscheiden?

Dies sind nur einige exemplarische Fragen, die es zu beachten gilt, wenn wir unser Verhältnis zu den digitalen Technologien reflektieren. Die digitalen Geisteswissenschaften bieten hier einen sinnvollen Beitrag dazu. Unsere Gesellschaft muss sich aktiv damit auseinandersetzen, in welche Richtung sich unser digitales Verhalten entwickeln soll und wo wir Grenzen setzen wollen. Je stärker die Digitalisierung voranschreitet, desto bewusster müssen wir lernen damit umzugehen. Das trifft gleichermassen auf Entwickler/innen in der Wirtschaft, wie auch auf Anwender/innen und Konsument/innen in der Gesellschaft zu.

Quellen und weiterführende Informationen

Bockwinkel, P., Nickel, N., & Viehhauser, G. (2018). Digital Humanities: Perspektiven der Praxis (Digitalisierung und Globalisierung der Wissenschaften/Digitization and Globalization of Sciences). Berlin: Frank & Timme Verlag für wissenschaftliche Literatur.

Capurro, R. (2017). Homo Digitalis: Beiträge zur Ontologie, Anthropologie und Ethik der digitalen Technik. Wiesbaden: Springer VS.

Goertz, L., Hagenhofer, T., & Krämer, H. (2021). Praktische ethische Fragen beim Einsatz digitaler Technik: wie sieht nachhaltige Gestaltung und Einsatz von digitaler Technik aus? München: Carl Hanser Verlag.

Hengstschläger, M. (2020). Digitaler Wandel und Ethik. Elsbethen: EcoWin.

Jannidis, F., Kohle, H., & Rehbein, M. (2017). Digital Humanities: Eine Einführung. Stuttgart: J.B. Metzler Verlag.

Kurz, S. (2016). Digital Humanities: Grundlagen und Technologien für die Praxis (2. Auflage). Wiesbaden: Springer Vieweg.

Lewenberg, L., Neilson, T., & Rheams, D. (2018). Research Methods for the Digital Humanities. Cham: Palgrave Macmillan.

Smithies, J. (2017). The Digital Humanities and the Digital Modern. London: Palgrave Macmillan.

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