Fritz Seidel und Post-it-Zettel Fritz Seidel und Post-it-Zettel
Fritz Seidel ist Trainer, Speaker, Berater, Facilitator und Dozent für Innovation, Kollaboration, New Work / New Leadership und Business Agility. (Bild: Kalaidos FH)

Gute Entscheidungen zu treffen, wird in einer von VUCA und BANI geprägten Arbeitswelt immer herausfordernder. Waren früher die meisten Probleme einfach oder kompliziert, werden sie heute immer komplexer. Somit verändern sich die Anforderungen an Arbeits- und Entscheidungsprozesse. Agile Ansätze und die Förderung von Innovationsprozessen zielen darauf, solide Entscheidungsgrundlagen zu schaffen, um die Organisation zu stärken. Im kürzlich online durchgeführten Workhack der Kalaidos Fachhochschule präsentierte und diskutierte Fritz Seidel, Dozent für Business Agility, wie Entscheidungen in einem agilen Kontext bestmöglich getroffen werden und was deren Erfolg oder Misserfolg ausmacht.

Wie unterscheiden sich gute von schlechten Entscheidungen?

Wie Seidel betont, brauchen Entscheidungen Alternativen. Wenn Alternativen vorhanden sind, kann man nicht nicht entscheiden. Denn wenn man nichts tut, entscheidet man sich für den Status Quo, was nicht immer die beste Lösung ist. Wichtig sei, sich aktiv mit Handlungsoptionen auseinanderzusetzen und den Weg der Entscheidung mitzugestalten. So hat er für die Teilnehmenden des Workshops gleich zu Beginn eine Entscheidungsaufgabe mitgebracht, die in Breakout Groups zu lösen ist: «Wie unterscheiden sich gute von schlechten Entscheidungen?» Die Antwortoptionen sind vielfältig und reichen von der Anwendung des eigenen Wertekompasses, dem Einbezug verschiedener Perspektiven über das Abwägen von Dringlichkeit versus Wichtigkeit bis hin zur passenden Wahl der Entscheidungsfindungsmethode (Bauch-, Kopf-, Mehrheitsentscheid, Konsens etc.).

Wie entscheiden wir bei einfachen, komplizierten, komplexen oder gar chaotischen Herausforderungen?

Ob wir richtig oder falsch enscheiden, lässt sich daran messen, inwiefern das Ziel erreicht wurde, das man sich zu Beginn des Entscheidungsprozesses gestellt hat - so Seidel. Dies gilt vor allem für einfache und komplizierte Herausforderungen. Bei einfachen Problemen gibt es eine offensichtliche Beziehung zwischen Ursache und Wirkung wie beispielsweise Fehler bei Routinetätigkeiten. Hier kommen bewährte Praktiken und Standardprozesse für die Problemlösung zum Einsatz. Bei komplizierten Situationen oder Problemen ist die Beziehung von Ursache und Wirkung zwar gegeben, aber nicht auf den ersten Blick erkennbar. Hier gibt es meistens verschiedene Optionen bzw. Best Practices für gute Lösungen. Anders verhält es sich bei komplexen und chaotischen Herausforderungen. Wo die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung erst im Nachhinein ersichtlich wird oder gar nicht vorhanden ist, wie beispielweise in Veränderungsprozessen und Krisensituationen, existieren keine vordefinierten Handlungsrezepte und die Zielerreichung ist unklar. Hier geht es um das Experimentieren, das Lernen und Gewinnen von neuen Erkenntnissen mit dem Ziel, Entscheidungsgrundlagen für richtige und falsche Entscheidungen zu schaffen.

Kurz gesagt: Der Maturitätsgrad der Herausforderung (Abb. 1) ist eine geeignete Richtschnur für das Vorgehen bei der Entscheidungsfindung in der heutigen agilen Arbeitswelt.

Grafik: Maturität der Herausforderung
Abb. 1: Maturitätsgrad der Herausforderung (Seidel, 2024)

Wie kommt es zu Fehlentscheidungen?

In bestimmten Situationen können unbewusste Faktoren bei der Wahrnehmung der eigenen oder anderer Personen zu Denkfehlern und zu einer falschen Entscheidung führen. Solche sogenannten kognitiven Verzerrungen oder Biases können beispielsweise für medizinische Fehldiagnosen verantwortlich sein. Wenn ein Arzt plötzlich häufiger eine seltene Diagnose stellt, ist vielleicht der Verfügbarkeits-Bias im Spiel: Dieser beschreibt das Phänomen, dass das, womit man sich zuletzt beschäftigt hat, einem auch als Erstes wieder einfällt. War der Arzt kürzlich an einer Weiterbildung zu einem seltenen Krankheitsbild, hat er dieses gerade im Kopf und scheint auch zu seinem aktuellen Patienten zu passen. Beim Dunning-Kruger-Effekt (vgl. Abb. 2) handelt es sich um eine Überschätzung des eigenen Wissens und Könnens. Ähnlich verhält es sich beim Confirmation Bias: Menschen entscheiden sich für jene Option, die ehesten ihrer Meinung entspricht. Nicht zuletzt werden Entscheidungen auch vom Hungry-Judge-Effekt beeinflusst: Eine Studie aus dem Jahr 2011 (Danzinger et al.) ergab, dass Richter zu Beginn einer Gerichtsverhandlung in 65 Prozent der Fälle eine Bewährung statt einer Haftstrafe aussprachen, während die Bewährungsquote kurz vor einer Essenspause auf fast Null sank.

Grafik Dunning-Kruger-Effekt
Abb. 2: Dunning-Kruger-Effekt (Seidel, 2024)

Gemäss Seidel sollte man sich vor solch unbewussten Denkfehlern in Acht nehmen. Am wichtigsten sei es zu erkennen, wann man schnell und wann man langsam entscheiden sollte. Bei intuitiven Entscheiden spielt unsere Erfahrung eine grosse Rolle und lässt uns schnell entscheiden. Logisch-rationale Entscheidungen dauern länger und sind bei unklaren, unbekannten bzw. komplexen Problemen oder bei fehlender Erfahrung angebracht. Wenn bei der Anwendung des «H.O.T.-Modells» alle Testfragen zu einem «Ja» führen, sollte man viel Zeit für die Entscheidungsfindung investieren. Auch bei zwei ähnlichen Lösungsoptionen kann das H.O.T-Modell helfen:

  • «Happiness Test»: Beeinflusst das Ergebnis meiner Entscheidung, wie zufrieden ich mich in einer Woche fühle?
  • «Only Option Test»: Wenn dies die einzige Option wäre, würde mich das traurig stimmen?
  • «2-Way-Door-Test»: Ist die Entscheidung kaum umkehrbar?

Wie entscheiden Gruppen am besten?

Je höher der Maturitätsgrad der Herausforderung, desto grösser der Einbezug von anderen Menschen bei der Entscheidungsfindung. Diese dürfen so divers wie möglich sein – so Seidel. Aufgrund der Persönlichkeit, Erfahrung, Herkunft oder Kultur können Menschen die genau gleiche Situation völlig anders beurteilen. Dadurch erhöhe sich zwar die Uneinigkeit, dafür auch die Vielfalt am Entscheidungsoptionen, was schliesslich die Chance auf gute Lösungen steigert. Konflikte bei der Entscheidungsfindung entstehen dann, wenn Diversität negativ bewertet und schlecht genutzt wird.

Auch bei Gruppenentscheidungen kann es zu kognitiven Verzerrungen kommen: wenn sich Menschen beispielsweise blind auf Expertenmeinungen verlassen («Expert Bias») oder gar keine Meinung haben und sich deshalb der Gruppenmeinung anschliessen («Social Proof Bias»). Ist der Chef oder die Chefin präsent und werden deren Ideen für wichtiger bewertet, weil man bei Vorgesetzten Wissen voraussetzt, kann ein «Authority Bias» vorliegen.

Wie Seidel hervorhebt, gibt es keine neutralen Entscheidungen, sondern die Methode entscheidet über das Ergebnis. Demokratische Entscheide sind Mehrheitsentscheide. Mindestens eine oder mehrere Personen werden nicht zufrieden mit dem Ergebnis sein. Konsensentscheide sind einstimmig, das heisst, alle sind dafür. Bei der Konsententscheidung ist keiner dagegen, das heisst, die Lösung wird von allen mitgetragen, obwohl nicht jeder damit einverstanden ist. Oder anders ausgedrückt: Je nach Möglichkeit, seine Position als «dafür» oder «dagegen» zu deklarieren, mit einer Gewichtung zu versehen oder mittels differenzierter Argumente wiederzugeben, kann das Ergebnis der Entscheidungsfindung unterschiedlich ausfallen.

Grafik Group Decision Examples
Abb. 3: Group decision examples (Seidel, 2024)

Fazit

In einem agilen Arbeitskontext ist es wichtig, sich möglichst rasch einen guten Überblick über eine Situation zu verschaffen und die richtige Entscheidung zu fällen. Eine der wichtigsten Entscheidungen ist, wie langsam oder schnell zu entscheiden ist. Der Komplexitätsgrad der Herausforderung spielt dabei eine bedeutende Rolle: Je einfacher die Situation oder das Problem, desto eher kann man eine Entscheidung schnell und selbst fällen. Bei komplexeren Verhältnissen ist das Potenzial von möglichst divers zusammengesetzten Gruppen zu nutzen und mehr Zeit in den Entscheidungsprozess zu investieren. Kognitive Verzerrungen und die Wahl der Entscheidungsmethode können das Ergebnis erheblich beeinflussen. Insbesondere bei Gruppenentscheidungen ist eine bestmögliche statt einer perfekten Lösung anzustreben. In einer VUCA und BANI geprägten Welt kann die perfekte Lösung morgen schon wieder erneuerungsbedürftig sein.

Autor/in
Irene-Willi

Irene Willi Kägi

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