Kind im Marshmallow-Test nach Mischel (1974) Kind im Marshmallow-Test nach Mischel (1974)
Ist der sozioökonomische Status für den späteren Erfolg doch wichtiger als die im Marshmallow-Test erhobene Willenskraft? (Symbolbild)

Er ist einer der grossen Klassiker der experimentellen Psychologie: Der Marshmallow-Test. In dessen ursprünglicher Version setzten die Forscher um Walter Mischel (1974) Kleinkindern einen Marshmallow vor und boten ihnen an, dass – vorausgesetzt sie würden das Naschwerk nicht sofort verzehren – sie zu einem späteren Zeitpunkt einen weiteren Marshmallow erhalten würden.

Die zentrale Erkenntnis dieses Experimentes war in einer Langzeitbeobachtung, dass diejenigen Kinder, welche länger auf einen weiteren Marshmallow warten konnten, in ihrer weiteren sozialen und beruflichen Entwicklung deutlich erfolgreicher waren als jene Kinder, welche sich ungeduldiger zeigten und den Marshmallow sofort verspeisten. Konsequenterweise lautet der Buchtitel des Bestsellers von Walter Mischel (2014) auch «Why self-control is the engine of success». Dies bedeutet: Wer früh nach dem Motto handelt, dass es manchmal besser ist geduldig zu sein, erntet die Früchte der Selbstkontrolle auch im späteren Leben.

Was plausibel klingt, wird der Erklärung von beruflichem und privatem Erfolg aber nicht vollends gerecht, wie eine aktuelle Studie von Tyler Watts und Kollegen (2018) zeigt. Sie replizierten die Studie von Mischel und stellten dabei fest: Wichtiger als die Bereitschaft zu warten, ist der soziodemographische Status des Elternhauses. Dieser bedeutende Faktor war in der Stichprobe von Mischel zu wenig berücksichtigt worden. So zeigt sich in der neuen Studie, dass gerade Kinder aus bildungsfernen Schichten deutlich weniger lang bereit sind auf eine zusätzliche Belohnung zu warten.

Was bedeutet dies für die Ergebnisse des Ur-Marshmallow-Tests? Sind diese nun widerlegt, und ist Selbstkontrolle doch nicht so wichtig für die Erklärung von Karriere? Ist diese Studie ein weiterer Beleg für die Replikationskrise, unter welcher die Psychologie leidet? Und was machen Verhaltensökonomen eigentlich besser oder anders?

Diese Fragen stellten wir dem Verhaltensökonomen Prof. Dr. Matthias Sutter, Direktor am Max Planck Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern in Bonn:

Herr Sutter, ist die Marshmallow-Studie von Walter Mischel widerlegt?

Das würde ich im Moment nicht so sehen. Wir haben jetzt zwar eine Studie, die zeigt, dass der soziale Hintergrund späteren Erfolg eher vorhersagt als die Fähigkeit, auf ein weiteres Marshmallow zu warten. Es gibt aber viele andere Studien, die zeigen, dass die Fähigkeit zuzuwarten bedeutsam ist – und zwar auch, wenn man weitere Variablen wie sozialer Hintergrund oder IQ kontrolliert, wie zum Beispiel in einer Studie von Terri Moffitt und Koautoren im Jahr 2011. Ich würde deshalb empfehlen, noch ein kleines bisschen zuwarten, bevor man das Kind mit dem Bade ausschüttet. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass das Kind je wirklich ganz ausgeschüttet wird.

Könnte es sein, dass der gute Walter Mischel Opfer des fundamentalen Attributionsfehlers geworden ist? Dass er die Persönlichkeit – in diesem Fall die Willenskraft – überbewertet und den sozialen Kontext unterschätzt hat?

Ganz ehrlich: Es ist schwer zu sagen, was Herr Mischel vor 50 Jahren gedacht hat. Klar ist, dass wir im Laufe der Jahre einiges dazugelernt haben. Wir wissen, dass oft viele Faktoren in ein Ergebnis hineinspielen. Wir wissen, dass Lebenserfolg nicht nur von Geduld, sondern von vielen weiteren Dingen abhängt. Deswegen aber fundamental Kritik an ihm zu üben, halte ich für verfrüht.

Matthias Sutter

Lassen wir die Person Walter Mischel einmal aussen vor und reden über die experimentelle Psychologie ganz allgemein. Man spricht schon länger von einer Replikationskrise in der Psychologie. Ist die Studie von Watts und Kollegen quasi ein weiterer Sargnagel der frühen experimentellen psychologischen Forschung?

So würde ich das noch nicht sehen! Nach meinem Verständnis bezieht sich die von Ihnen angesprochene Replikationskrise vielfach darauf, dass man ein bestimmtes psychologisches Verhaltensmuster in einer Publikation bespricht, z. B. Ego-Depletion, und es dann mehrfach nicht gelingt, dieses Verhaltensmuster im Rahmen von Laborexperimenten zu replizieren.

Spannender und wichtiger scheint mir aber der Blick auf die langfristigen Effekte von Verhaltensmustern – über 20, 40 Jahre hinweg. So, wie es im Marshmallow-Experiment eben gemacht oder versucht wurde. Sowas widerlegt man nicht mal eben kurz im Labor, und meiner Meinung nach ist es zu früh, um der Marshmallow-Studie den Todesstoss zu versetzen.

Und vergessen Sie nicht den Publication Bias. Wenn Sie heute Mischel-Studien replizieren können, schreit kein Top-Journal wie Psychological Science Hurra! Sondern die sagen dann lediglich „Schön, haben wir nun endlich eine Bestätigung dessen, was wir bereits wussten.“ Wird hingegen ein psychologischer Klassiker angezweifelt, weckt dies grösseres Interesse.

Sie sind kein experimenteller Sozialpsychologe, sondern Verhaltensökonom. Bei den Verhaltensökonomen ist die Replikationskrise nicht ausgebrochen; da scheinen die Ergebnisse robuster zu sein. Was machen Verhaltensökonomen besser als Psychologen?

Als Nicht-Psychologe kann ich nicht beurteilen, woran es denn vielleicht krankt in der psychologischen Forschung. In der Verhaltensökonomie bekommen Replikationsstudien in jüngster Vergangenheit auch mehr Gewicht. Zum Glück schauen die bisherigen Ergebnisse nicht schlecht für unsere Profession aus. Das liegt vielleicht daran, dass es in der Verhaltensökonomie ein paar Paradigmen gibt, quasi eiserne prozedurale Gesetze, die eingehalten werden und die hoffentlich zu einer leichteren Replizierbarkeit beitragen. Ich würde sagen, in der Verhaltensökonomie haben wir standardisiertere Paradigmen als in der Psychologie. Wenn ich sozialpsychologische Literatur lese, denke ich manchmal, der eine macht’s so, der andere so – da gibt es feine Unterschiede im Design, im Aufbau eines Experiments, die dann wiederum nicht sauber aufeinanderpassen, was unterschiedliche Ergebnisse, ja vielleicht geringere Replizierbarkeit, erklären könnte. In der Ökonomie gibt es ein einheitlicheres Verständnis dafür, wie man Kooperation, soziale Präferenzen oder Fairness misst. Natürlich gibt es ein paar Spielvarianten, aber wir haben relativ standardisierte Vorgehensmuster. Und das hilft sicher für die Vergleichbarkeit von Studien.



Mit Matthias Sutter haben wir bereits über die Vorzüge von Geduld geredet. Das Interview lesen Sie hier.

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Weiterführende Informationen und Quellen:

Mischel, W. (1974). Processes in delay of gratification. In Berkowitz, L. (Ed.), Advances in experimental social psychology (Vol. 7, pp. 249–292). New York, NY: Academic Press.

Mischel, W. (2014). The marshmallow test: Why self-control is the engine of success. New York, NY: Little, Brown.

Moffitt, Terrie E., Arseneault, Louise, Belsky, Daniel, Dickson, Nigel, Hancox, Robert J., Harrington, HonaLee, Houts, Renate, Poulton, Richie, Roberts, Brent W., Ross, Stephen, Sears, Malcolm R., Thomson, W. Murray, Caspi, Avshalom, 2011. A gradient of childhood self-control predicts health, wealth, and public safety. Proceedings of the National Academy of Sciences of the USA 108, 2693-2698

Watts, T.W., Duncan, G.J., and Quan, H. (2018). Revisiting the Marshmallow Test: A Conceptual Replication Investigating Links Between Early Delay of Gratification and Later Outcomes. Psychological Science, doi.org/10.1177/0956797618761661

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Dr. Jörn-Basel

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Sherin Keller

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