Werteorientierung statt Buzzword-Bingo
Annette Rath
Wer für die Personalentwicklung von weltweit rund 90.000 Mitarbeitenden mitverantwortlich ist, sollte selber Freude an Weiterbildungen haben. Christine Weinmann, die sich seit Anfang des Jahres bei einem der grössten Baustoffproduzenten um die Weiterbildung von Führungskräften und Talentförderung kümmert, darf das getrost von sich behaupten.
Nach Aus- und Weiterbildungen im technischen und betriebswirtschaftlichen Bereich ist bei Christine Weinmanns weiteren Studienabschlüssen in Wirtschaftsethik, Bildungsmanagement und Wirtschaftspsychologie zunehmend der Mensch in den Vordergrund Ihres Interesses gerückt. Die gebürtige Stuttgarterin sammelte seit ihrem Berufsstart als Graphics Consultant bei McKinsey umfangreiche, auch internationale Erfahrungen, in diversen Leitungsfunktionen in der Pharma-, Fertigungs- und IT-Industrie. Aus den graphischen Vorlagen sind mittlerweile globale Weiterbildungskonzepte geworden. Ihr vielseitiges Rüstzeug macht es ihr leicht, innerhalb eines ingenieurdominierten Umfeldes flexibel ein pragmatisches, prozessorientiertes, dabei aber auch werteorientiertes Argumentarium auszupacken, das den Menschen im Fokus behält.
Erfahren Sie im Interview, worin die Weiterbildungsexpertin den Mehrwert ihres wirtschaftspsychologischen Wissens sieht und bei welchem Thema ihr Wissensdrang sie dazu geführt hat, dem im Rahmen einer Promotion nachzugehen.
Frau Weinmann, was hat Sie dazu bewogen, auch noch ein Studium in Wirtschaftspsychologie abzuschliessen?
Für mich war das eine logische Konsequenz. Das eine führt zum anderen. Am Anfang gilt es erst mal die Technologie und die Zusammenhänge zu verstehen und wie alles finanziert wird. Mit dem eigenen Reifeprozess habe ich dann realisiert, dass ja der Mensch im Mittelpunkt von jedem Wirtschaften steht. Je besser man die Hintergründe und Prozesse auch da kennt, umso besser kann man damit umgehen und ein wirklich gutes Arbeitsumfeld gestalten. Ausserdem wuchs mein Interesse, Wissen weiterzugeben, generativ tätig zu sein. Mit einem Wirtschaftspsychologiestudium ist es möglich, in diese Richtung zu gehen.
Was bringt Ihnen Ihr Know-how in Wirtschaftspsychologie konkret?
Beispielsweise hinterfrage ich viel mehr, wie Entscheidungen getroffen werden. Ein konkretes Beispiel hierzu aus meiner derzeitigen Arbeit ist, dass ich bei einer Ausschreibung die eingegangenen Offerten der Anbieter unkenntlich gemacht habe über eine sogenannte Blind ID. Mir ging es darum, im Auswahlprozess den Einfluss von Assoziationen und Voreingenommenheit gegenüber den Anbietermarken zu minimieren.
Was ich im Studium über Leadership-Psychologie gelernt habe, kann ich konkret bei der Führungskräfteentwicklung einsetzen, wenn ich beispielsweise eine Auswahl treffe, welche Ansätze für die Firma geeignet sind. Ich bin in der Lage zu analysieren, wo konkret Unterstützung nötig ist. Bei der Führungskräfteentwicklung steht am Anfang eine Vertiefung der Selbsterkenntnis bezüglich der eigenen Präferenzen und des eigenen Stils, um eine Basis zu schaffen gezielt das eigene Verhalten zu reflektieren. Oftmals erhalten Führungskräfte kein ehrliches Feedback von ihrem direkten Umfeld, beispielsweise weil in einer hierarchischen Beziehung die Abhängigkeit Ehrlichkeit erschwert. Daher geht es in der Führungskräfteentwicklung darum verschiedene Feedbackquellen zu aktivieren, um so eine Weiterentwicklung zu fördern.
Mein Wissen über menschliche Wahrnehmung und über Konflikte gibt mir immer wieder Impulse für die Bereiche Change Management und Interkulturelles Management. So kann ich vieles aus verschiedenen Perspektiven sehen.
Wie sieht ein typischer Arbeitstag von Ihnen aus?
Der morgendliche Arbeitsweg ist für mich auch ein Moment der Reflexion: Was ist heute wichtig? Was will ich heute erreichen? Momentan arbeite ich hauptsächlich an zwei Konzepten: einem Führungskräfteentwicklungsprogramm und einem Mentoring-Konzept. Ich tausche mich dabei intensiv mit meinen Kollegen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen aus, die entsprechend vielfältige Perspektiven und Präferenzen einbringen.
Das Programm für unseren Führungsnachwuchs soll systematisch die Nachfolgeplanung stärken. Persönlich wichtig ist mir dabei, dass die identifizierten Talente nicht einfach ein Programm durchlaufen, sondern – Self-Determination Theory lässt grüssen – miteinbezogen werden und Schwerpunkte setzen können, was sie entwickeln wollen. Die Funktion der Personalentwicklung liegt dabei schwerpunktmässig in der Gestaltung des optimalen Lernprozesses.
Das Mentoring-Konzept soll allen Mitarbeitenden offenstehen. Es kann dabei um Karrierethemen gehen. Es geht aber auch allgemein um den Austausch von Erfahrungen, um so das eigene Potenzial zu entfalten und Kolleginnen und Kollegen im Sinne einer generativen Tätigkeit zu unterstützen. Ich habe persönlich mit Mentoring, als Mentee und als Mentor, schon sehr konstruktive Erfahrungen machen dürfen und freue mich, dies in mein Konzept einfliessen lassen zu können.
Zu der konzeptionellen Arbeit, die ich sehr liebe, kommen noch diverse Meetings und gelegentliche Besuche von Fabriken und Standorten dazu. Während ich früher viel gereist bin, spielt sich meine jetzige Tätigkeit überwiegend im Firmenhauptsitz ab.
Ressourcen einmal vorausgesetzt: Welches Thema würden Sie vorantreiben wollen?
Ich möchte der Frage nachgehen, warum Menschen mit Berufserfahrung ihren Beruf wechseln und wie sich dieser Prozess gestaltet, wenn sich Menschen – freiwillig oder auch unfreiwillig – einer neuen Berufung zuwenden. Für Unternehmen ist es wichtig, die Karrieremotivation ihrer Mitarbeitenden zu verstehen, um darauf abgestimmte Konzepte anzubieten. Wenn die Firmen hier keine Antwort bzw. Perspektive finden, droht, dass Leistungsträger das Unternehmen verlassen, Wissensverlust und Nachfolgeprobleme inklusive, oder dass ihr Engagement nachlässt. In der Literatur zur Karriereforschung hab ich das als Thematik bisher noch kaum gesehen und widme mich dem in meiner kürzlich begonnenen Promotion.
Wo sehen Sie aktuell grosse Herausforderungen in ihrem Arbeitsumfeld?
Auf Führungsebene wird derzeit viel mit Schlagworten jongliert: Transformation, Change und natürlich auch Digitalisierung. Angesichts dieses „Buzzword-Bingos“ nehme ich bei Mitarbeitenden eine gewisse Ermüdung wahr, die einhergeht mit Verunsicherung, was hinter diesen Begriffen wirklich steckt. Steht etwa Change Management eigentlich für Personalabbau? Die starke Verwendung der Schlagworte ist u.a. ein Indiz für die Komplexität der Themen. Führungskräfte sind gefordert, zusammen mit ihren Mitarbeitenden die Themen zu erkunden und als „gemeinsame Reise“ zu begreifen. So kann das Thema Change als ständiger Begleiter, im Sinne von Vorstellungen entwickeln, experimentieren, lernen und gemeinsam wachsen, begriffen werden. In der Hoffnung, dass Mitarbeitende und Führungskräfte das Thema Change als etwas Positives erleben können und nicht nur als die nächste Restrukturierung.
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