Dr. Mirjam Hauser beobachtet und analysiert Veränderungen von Gesellschaft, Wirtschaft und Technologie, mit Fokus auf Werte, Konsumentenverhalten und Konsumpsychologie. Nach langjähriger Forschungstätigkeit am Gottlieb Duttweiler Institut (GDI), arbeitet sie heute als Senior Market Researcher bei GIM Suisse, der Gesellschaft für innovative Marktforschung, und beschäftigt sich mit Trends der Zukunft. Was bedeutet das? Wie geht das?
Wir haben mit Mirjam Hauser über Trendforschung und die Herausforderungen dabei gesprochen – und ganz nebenbei die eine oder andere kulinarische Inspiration erlebt.

Frau Hauser, welches sind die wichtigsten Unterschiede zwischen Marktforschung, Trendforschung und Zukunftsforschung?

Nach früherem Verständnis hat sich Marktforschung vor allem auf die Gegenwart fokussiert und Daten über bestehende Märkte gesammelt und interpretiert. Heute verwischen die Grenzen zwischen Gegenwarts- und Zukunftsbetrachtung. Der Marktforscher leitet von seinen Erkenntnissen auch mögliche Trends ab, und der Trendforscher betreibt für seine Zukunftsstudien natürlich auch Marktforschung.

Trend- und Zukunftsforschung werden häufig als Synonym verwendet. Es gibt aber auch Forschungsinstitutionen, die unter Trends kurzfristig orientierte Entwicklungen verstehen und den Begriff Zukunftsforschung verwenden, wenn es sich um längerfristige, die Zukunft prägende Entwicklungen handelt. Bei der GIM Suisse reden wir von Megatrends und meinen damit Entwicklungen, die branchen- und gesellschaftsübergreifend sind und uns längerfristig beschäftigen. Kurzfristige Trends sind beispielsweise in der Mode sehr wichtig. Die Frage, welche Farben, Schnitte und Designs in Zukunft angesagt sind, wird alljährlich neu beantwortet. Ein Forscher, der herausfinden möchte, welche Farbe im Jahr 2030 bei Handtaschen dominiert, stünde vor einer sehr schwierigen, wenn nicht gar unmöglichen Aufgabe. Ein Beispiel für einen Megatrend ist die Mobilität. Die zeitliche Perspektive bei Studien aus der Zukunftsforschung, die sich vor allem mit diesen Megatrends und deren Auswirkungen beschäftigen, liegt bei 5 bis 15 Jahren.

Welches sind Ihre wichtigsten Quellen und Inspirationen für die Voraussage von Trends und das Erstellen von Zukunftsszenarien?

Um Trends vorhersagen oder ein Zukunftsszenario entwickeln zu können, muss ein Trendforscher in die Vergangenheit zurückblicken. 5, 10, 15 oder auch mal 20 Jahre. Das heisst: lesen, lesen, lesen; und zwar sämtliche Sekundärquellen zum jeweiligen Thema. Das können wissenschaftliche Publikationen sein, Beiträge in Print- und sozialen Medien, Forumsdiskussionen und vieles mehr. Diesem sogenannten Desk Research folgt häufig eine Primärdatenerhebung, weil gewisse Fragen, denen man gerne auf den Grund gehen möchte, eben doch nicht so explizit beantwortet werden. Bei der Datenerhebung greifen wir auf diverse quantitative und qualitative Forschungsmethoden zurück: Online-Befragungen, Experten-Interviews mit Wissenschaftlern und erfahrenen Praxisleuten, Beobachtungen, Fokusgruppen, Gruppendiskussionen, Workshops und vieles mehr. Dann gibt es natürlich Tools wie Google Analytics, Google Trends oder Google Correlate, die unsere Forschungstätigkeit unterstützen, sowie weitere Anbieter von Daten und Zugänge zu Datenbanken.

Vielleicht haben Sie bei der Frage nach "Inspirationen" an etwas Aufregenderes als an das klassische Erheben und Analysieren von Primär- und Sekundärdaten gedacht. Natürlich bin ich auch als "Trend Scout" in anderen Städten unterwegs, beobachte Leute, studiere Angebote und so weiter – aber ein Grossteil meiner Arbeit findet schon vor dem Laptop statt.

Ihrer Publikationsliste kann man eine gewisse Affinität zu Food-Trends entnehmen. Woher kommt das Interesse an Ernährung?

Das Food-Thema hat sich eigentlich zufälligerweise ergeben. Ich wurde am GDI in eine Studie zu Food-Trends involviert, und seither hat mich das Thema immer wieder begleitet. Was mich unter anderem daran fasziniert, ist, dass sich viele Trends im Food-Bereich abzeichnen, bevor sie Einzug in andere Branchen halten. Beispielsweise das Bedürfnis nach Nachhaltigkeit oder Regionalität, das man beim Essverhalten beobachten konnte und das danach auf die Mode-, Kosmetik- oder Möbelbranche übergegangen ist. Zudem finde ich es spannend, wie der Mensch beim Thema Ernährung einerseits an Gewohnheiten festhält, andererseits aber trotzdem neugierig und offen für neue Erlebnisse ist. Die Entwicklung unserer Ernährung zu beobachten, zu erforschen und vorherzusagen, finde ich sehr spannend.

Welches sind die wichtigsten Trends im Food-Bereich?

Einer der grossen Megatrends, die Digitalisierung und Technologisierung, lässt natürlich auch die Food-Branche nicht unberührt und beeinflusst unser Konsumverhalten im Bereich Nahrungsmittel – weniger hinsichtlich was wir essen, sondern vielmehr wie wir zu unserem Essen kommen. Holen wir es uns beim Takeaway um die Ecke, bestellen wir es uns via App, kocht unser Nachbar gleich für jene mit, die über ein Sharing-Konzept ein Mittagsmenü bestellt haben? Die Art, wie wir unser Essen beschaffen, wird sich noch stark verändern.

Wissen Konsumenten überhaupt, was sie wollen? Wie soll man in der Marktforschung vorgehen, um das Potential neuer Produkte möglichst verlässlich abschätzen zu können?

Mit der Verlässlichkeit ist das natürlich so eine Sache. Ob sich Menschen für ein neues Produkt interessieren und es am Schluss auch noch kaufen, hängt von sehr vielen Faktoren ab. Diese richtig einzuschätzen, ist eine Herausforderung. Obwohl der Verzehr von Insekten eine ökologische Lösung für die weltweite Nahrungsknappheit bedeuten könnte, ist fraglich, ob wir in ein, zwei Jahren unsere Bolognese-Sauce nur noch mit Mehlwürmern zubereiten.

Nehmen wir doch gleich dieses Beispiel zur Beantwortung von Teil 1 der Frage: Nein, Konsumenten wissen in vielen Fällen nicht konkret, was sie wollen. Hätte man vor 20 Jahren die Schweizer Bevölkerung gefragt, welches kulinarische Angebot sie vermissen, wäre die Antwort wohl kaum "ein Insekten-Burger!" gewesen. Geht man die Sache aber anders an – ich komme zu Teil 2 der Frage – könnte sich durchaus abzeichnen, dass Insekten-Burger die Lösung für eine bestimmte Kombination von Bedürfnissen darstellen. In der Trendforschung versucht man, den Werten, Wünschen, Einstellungen etc. der Menschen auf den Grund zu gehen und entsprechende Angebotslücken durch neue Produkte oder Dienstleistungen zu schliessen. Beim Essen könnten beispielsweise folgende Bedürfnisse und Interessen identifiziert werden: Nachhaltige Produktion, gesunde Fette, wertvolle Proteine, Genuss, Verfügbarkeit, Vielfältigkeit, kulinarische Erlebnisse, mobile Einnahme. Und schon sind wir vielleicht gar nicht mehr weit entfernt vom Grillen-Burger und den Heuschrecken-Chips.

Es gibt aber auch viele Produkte und Innovationen, die nicht durch Konsumentenbedürfnisse und -wünsche angestossen werden, weil diese Bedürfnisse erst geweckt werden müssen. Gerade, wenn es um technologische Innovationen geht, arbeiten wir häufig mit Experteninterviews. Experten aus der Praxis, beispielsweise Verantwortliche für Forschung & Entwicklung von Technologieunternehmen, werden zu aktuellen Entwicklungen und geplanten Produkteinführungen befragt. Diese wiederum werden dann den Interessenstendenzen der Konsumenten gegenübergestellt und das Erfolgspotenzial am Markt abgeschätzt.

Ausschnitt aus dem Deckblatt der GIM-Studie Values and Visions 2030GIM-Studie www.values-visions-2030.com (Bildausschnitt)

Wie setzen Sie Ihr psychologisches Know-how konkret ein?

Psychologisches Wissen ist die Grundlage für meine Arbeit. Die kognitiven Prozesse des Menschen zu kennen, zu verstehen, wie seine Bedürfnisse entstehen und wie sich sein Verhalten erklären lässt, die Komplexität des Entscheidungsverhaltens zu durchdringen – das alles sind Grundvoraussetzungen für das Vorhersagen von Verhalten und das Entwickeln von Zukunftsszenarien.

Ebenso wichtig wie das psychologische Grundwissen sind Kenntnisse des wissenschaftlichen Forschungsprozesses: Wie komme ich von der Fragestellung eines Kunden zu einem erfolgversprechenden Forschungsdesign? Welche Wissenslücken, die nach dem Studieren von Primär- und Sekundärliteratur bestehen bleiben, können durch welche Methoden der Sozialwissenschaften am besten geschlossen werden? Welches sind die Vor- und Nachteile der jeweiligen Methoden? Bei der angewandten Forschung ist oft auch die Wirtschaftlichkeit des Forschungsdesigns ein Thema. Zeit und Geld stehen nicht unbegrenzt zur Verfügung.

Psychologisches Grundwissen und solide Methodenkenntnisse sind also das A und O für unsere Tätigkeit. Wissen, das im Rahmen eines Universitäts- oder Fachhochschulstudiums vermittelt wird.

Weiterführende Informationen und Quellen:

Fernow, H., Hauser, M., & Huber, B. (2017). Values & Visions 2030 - Was uns morgen wichtig ist.

Link zur GIM-Studie : www.values-visions-2030.com

###

Lust auf weitere spannende Interviews von Wirtschaftspsychologen @ work?

Facebook Twitter Xing LinkedIn WhatsApp E-Mail