In internationalen Projekten arbeiten Menschen aus verschiedensten Ländern und Kulturen zusammen. Dies stellt selbst erfahrene Projektleiter vor neue Herausforderungen. Sie müssen nicht nur Zeitunterschiede und geografische Distanzen überwinden, sondern auch kulturelle Gegebenheiten richtig einschätzen und handhaben.

 

Lange Zeit waren es vor allem Grossunternehmen wie ABB, Credit Suisse, Nestlé,  Novartis oder Schindler, für welche das globale Geschäft bereits der Normalfall war. Viele mittelständische Unternehmen waren zwar ebenfalls stark exportorientiert. Ihre internationale Tätigkeit war aber vor allem auf den Verkauf und die Wartung von Maschinen und Anlagen beschränkt. Heute ist praktisch jedes Schweizer KMU in internationale Projekte involviert, manchmal federführend, manchmal als Teil eines Konsortiums.

 

Unabhängig davon, ob man sein Projekt an der IPMA Competence Baseline orientiert oder an Scrum, PRINCE2 oder am PMBOK, gibt es sieben Schlüsselfaktoren, die helfen, internationale Projekte erfolgreich zu führen:

 

 Schlüsselfaktoren internationales Projektmanagment

 

Im Beispiel eines IT-Projekts, bei dem ein indischer Dienstleistungspartner mitwirkt, kommen diese Schlüsselfaktoren wie folgt zur Anwendung:

1. Kontextbezogene Business-Analyse

Die Geschichte westlicher Industrienationen zeigt, dass es rund 50 bis 75 Jahre dauert, bis eine Volkswirtschaft modern und wohlhabend ist. Doch Indiens moderne Industrialisierung begann erst vor ungefähr 15 Jahren. Dies muss nicht zwingend ein Nachteil sein: indische Projektmitarbeiter denken oft quasi „auf der grünen Wiese“. Weil sie stets alles auf kreative Art und Weise neu denken, ist die indische IT-Branche weltweit so erfolgreich.

 

Doch auch kreative Lösungen müssen in einem bestimmten Umfeld verwendbar sein. Den wenigsten Indern ist das Umfeld in der Schweiz bekannt, so dass ihre kreativen Lösungen in Indien wohl verwendbar sind, nicht aber unbedingt hier. Wenn Sie also Ihre Business-Analyse verfassen, sollten Sie unbedingt darauf achten, nicht nur zu beschreiben, worum es im Projekt geht, sondern mindestens so genau, wieso dies so ist. Liefern Sie den Kontext mit.

 

2. Minutiös spezifizierte Anforderungen

 

Der Mensch kommuniziert immer auch zwischen den Zeilen, selbst in technischen Dokumenten. Wenn wir ein solches Dokument einem Kollegen in der Schweiz geben, versteht er dieses mühelos. Schliesslich liest er es mit derselben „kulturellen Brille“, durch welche wir das Dokument verfasst haben. Ihr indischer Kollege aber trägt eine andere Brille und ordnet vieles von dem, was Sie zwischen den Zeilen geschrieben haben, anders ein als Sie es meinen. Wenn Sie in einem internationalen Projekt Anforderungen spezifizieren, fragen Sie Ihre indischen Partner, was in Ihren Spezifikationen nicht 100% eindeutig ist. Nach Ihrer Überarbeitung werden die Spezifikationen zwar viel umfangreicher sein. Dafür werden diese minutiös spezifizierten Anforderungen von beiden Seiten gleich verstanden.

 

3. Narrative Use Cases

 

Use Cases werden in der Regel sequentiell und transaktional beschrieben: wie ist der Ablauf, welches sind die Interaktionen? Selten aber erzählen sie eine Geschichte oder beschreiben die Atmosphäre, in welcher die Abläufe und Interaktionen geschehen.

 

Wenn wir in westlichen Industrieländern an einem Bankomaten Geld beziehen, ist der Ablauf trocken und transaktional: Karte rein, PIN eintippen, Betrag wählen, Karte nehmen, Geld nehmen, fertig. Anders verhält es sich aber, wenn Sie jemanden fragen, der in Indien in einer Kleinstadt lebt, wo Bankomaten mit langsamen Prozessoren und schwachen Serververbindungen ausgestattet sind. Dies und die ländliche Atmosphäre verlangen, dass der Bankomat den Kunden mit Unterhaltung versorgt, während er auf das Geld wartet.

 

Liefern Sie möglichst zu jedem Use Case mindestens eine atmosphärische Beschreibung, eine kurze Geschichte oder Anekdote aus dem realen Leben. Beschränken Sie sich dabei nicht unbedingt auf die geschriebene Sprache, sondern nutzen Sie auch Fotos und Videos. Das Bankomaten-Beispiel oben trug sich tatsächlich in der IT-Abteilung einer schweizerischen Grossbank zu. Die Software war vom indischen Team einwandfrei programmiert worden, aber die grafische Oberfläche sah zu sehr nach einem indischen Bollywood-Film aus. Die Lösung: Das Schweizer Team filmte einen Kollegen, wie er an einem Bankomaten im Hauptbahnhof Zürich Bargeld bezieht und schickte den Film dem indischen Team. Dieses meldete ein grosses Aha-Erlebnis zurück und änderte die Oberfläche umgehend in eine dem schweizerischen Gebrauch angepasste Version.

 

4. „Dark Horse“-Dokumentation

 

Bei der Projektdokumentation gilt dasselbe wie bei den minutiös spezifizierten Anforderungen: Lassen Sie einen indischen Kollegen alles gegenlesen und adressieren Sie jeden seiner Hinweise in Ihrer Dokumentation. Der betreffende indische Kollege ist im Idealfall ein „Dark Horse“, also jemand, der mit dem Projekt (noch) nichts zu tun hat. Der Auftrag an ihn: markiere jede Stelle, die nicht eindeutig klar ist und sag mir, wieso.

 

5. Ausformulierte Erwartungen

 

Auch in der geschäftlichen Kommunikation sagen wir in Westeuropa häufig: „Könnten Sie bitte...“, „Würden Sie bitte...“ und „Dies sollte bis ... erledigt sein.“ Wenn man solche Formulierungen in der Zusammenarbeit mit indischen Kollegen gebraucht, erhält man kaum das erhoffte Resultat. Denn wenn man einen Mitarbeiter in einer hierarchischen Gesellschaft in der Möglichkeitsform fragt, bewirkt dies nicht unbedingt die erwünschte Handlung.

 

Stattdessen empfiehlt es sich, die Erwartungen und anstehenden Aufgaben klar und emotionslos zu formulieren. Solange Ihr Grundton und Ihr Auftreten respektvoll und freundlich sind, wird es Ihr indischer Kollege mit zuverlässiger und guter Arbeit danken.

 

6. Strikte Rollen und Verantwortlichkeiten

 

In der indischen Gesellschaft sind Seniorität, Status und Hierarchie noch feste gesellschaftliche Werte. Dort ist es von grosser Bedeutung, wo man steht, wen man führt und von wem man geführt wird. Je höher man in dieser hierarchischen Ordnung steht, desto mehr Macht und Verantwortung hat man; und je tiefer man steht, desto geringer ist die Eigenverantwortung.

Es empfiehlt sich daher, im HR-Management und Kommunikationsmanagement Ihres Projekts die Rollen und Verantwortlichkeiten eindeutig festzulegen und sich strikt daran zu halten. Vermeiden Sie Matrix-Organisationen ebenso wie die Erwartungen, dass Teammitglieder ihre Rolle spontan und flexibel den sich verändernden Bedingungen anpassen.

 

7. Interkulturelle Kompetenz

 

Wissen Sie, wieso indische Mitarbeiter sehr ungern ‚nein’ sagen? – Wenn nicht, wissen Sie auch nicht, wie Sie Ihre indischen Kollegen dazu bringen, klipp und klar zu sagen, ob die gesteckten Projektziele erreicht werden können. Stellen Sie sich vor, Ihr Projekt befände sich gerade auf dem kritischen Pfad – was für ein Risiko!

 

Im indischen Wertesystem wirkt ein direktes ‚nein’ vom Teammitglied zum Projektleiter konfrontativ und despektierlich. Das bringt schlechtes Karma. Wenn aber der Projekt-Manager seinem Mitarbeiter erklärt, dass er stets klare und direkte Aussagen erwartet, kann sich der hierarchie-orientierte Mitarbeiter getrost sagen: „Ich tue, was mein Chef mir sagt und sage ‚nein’.“

 

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International abgewickelte Projekte unterliegen eigenen Regeln und spezifischen Herausforderungen in Bezug auf Kommunikation, Führung, Methodik und Controlling. Lesen Sie hierzu auch unseren Blogbeitrag "Führung in Indien".

 

Ausserdem vermittelt das Modul Projekte im internationalen Umfeld die wesentlichen Kompetenzen für wirksame Projektführung im internationalen Projektumfeld. Dieses ist fester Bestandteil des CAS FH in Project Management, kann aber auch als allein stehendes Training absolviert werden.

 

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