Eine Einführung in die Welt der interkulturellen Kompetenz (1/2)
Rahel Siegenthaler, Michel Jenal
Wichtige Voraussetzung für eine professionelle, interkulturelle Begegnung ist neben der Fachkompetenz eine interkulturelle Kompetenz. Diese hilft, verschiedene interkulturelle Situationen richtig zu deuten und adäquat zu handeln.
Um den Begriff der interkulturellen Kompetenz zu klären, stütze ich mich auf die Definition und Ausführungen von Dr. Darla K. Deardorff (2006): „Interkulturelle Kompetenz beschreibt die Kompetenz, auf Grundlage bestimmter Haltungen und Einstellungen sowie besonderer Handlungs- und Reflexionsfähigkeiten in interkulturellen Situationen effektiv und angemessen zu interagieren."
Was bedeutet interkulturelle Kompetenz konkret?
1. Haltung und Einstellung. Ausgangspunkt für eine interkulturelle Begegnung ist eine grundsätzlich positive, neugierige und unvoreingenommene Haltung im Umgang mit Menschen aus anderen Herkunftsländern sowie eine Offenheit und Wertschätzung für kulturelle Verschiedenheit. Voraussetzung für eine solche Haltung ist das Bewusstsein, dass die eigene Kultur nur eine von vielen ist, dass die eigene Wahrnehmung, die eigene Bewertung relativ ist und dass andere Sichtweisen genauso „richtig“ und wichtig sind. Wesentlich im interkulturellen Kontext ist, dass man entstehende Unsicherheiten zulässt und sie lernt auszuhalten, sich immer wieder neu auf fremde Situationen einlässt und diese Erfahrungen kontinuierlich reflektiert (sogenannte Ambiguitätstoleranz).
2. Reflexionskompetenz. Es ist wichtig, dass man sich seiner eigenen kulturellen Prägung bewusst wird und weiss, welche Werte, Normen, Kommunikationsstile und Lebensweisen einem prägen und bestimmen. Diese Reflexion ist die Grundvoraussetzung, um Perspektivenwechsel, also Erweiterung bzw. Relativierung des eigenen Referenz- bzw. Wertesystems zuzulassen. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass sich Empathie entwickelt und man auf den andern zugehen kann.
3. Handlungskompetenz. Sie setzt sich nach Daerdoff wie folgt zusammen: Umfassendes kulturelles Wissen eignet man sich an, indem man verschiedene Werteorientierungen der unterschiedlichen Kulturen kennt und immer sicherer damit umgehen kann. Da selbst mit Weiterbildungen ein umfassendes kulturelles Wissen nie abschliessend zu erreichen ist, gehören insbesondere auch das Zuhören, aufmerksame Beobachten und vorsichtige Interpretieren sowie das Analysieren, Bewerten und Zuordnen kultureller Elemente zu wichtigen Kernfähigkeiten, die einen Perspektivenwechsel überhaupt ermöglichen. Bei der Kommunikationsfähigkeit geht es einerseits um die Sprachbeherrschung, anderseits um das Kennenlernen der verschiedenen Kommunikationsstile, welche in vielen Kulturen neben der verbalen Kommunikation eine wichtige Bedeutung haben.
4. Konstruktive Interaktion. Eine konstruktive Interaktion zwischen Geschäftsleuten in interkulturellen Situationen setzt eine angemessene und effektive Kommunikation der Beteiligten voraus, welche wichtige „kulturelle“ Regeln, die beide für verbindlich erachten, nicht verletzen.
Welche Instrumente werden eingesetzt, um Kulturen zu vergleichen?
Wir gehen hier auf fünf wichtige Instrumente, die Kulturdimensionen, ein:
1. Individualismus versus Kollektivismus. Kollektivistisch geprägte Gesellschaften sind in unserer Welt die Regel und Individualismus die Ausnahme.
- Individualistisch, z.B. USA, Australien, Kanada, Nord-, Mittel und Westeuropa
- Kollektivistisch, z.B. Lateinamerika, Asien, Afrika, Süd- und Osteuropa, arabische Länder
2. Powerdistance Index / Hierarchie. Diese Dimension beschreibt, inwieweit Individuen in einer Gesellschaft Ungleichheiten zwischen Hierarchiestufen akzeptieren.
- Egalitär, z.B. Nordeuropa (England, Norwegen, Dänemark, Schweden, Holland, Deutschland) USA, Kanada, Australien, Neuseeland, Israel
- Hierarchisch, z.B. Südeuropa, Osteuropa, Ägypten, Äthiopien, Saudi-Arabien, Ghana, Nigeria, Indien, China, Malaysia, Singapur, Taiwan, Japan und Teile von Mittel- und Südamerika.
3. Zeitverständnis. Man unterscheidet zwischen monochronem und polychronem Zeitverständnis. Bemerkenswert ist, dass in den meisten Kulturen ein polychrones Zeitverständnis vorherrscht.
- Monochron, z.B. Nord, Mittel- und Westeuropa, Nordamerika, Japan
- Polychron, z.B. Arabischer Kulturkreis, Afrika, Lateinamerika, Süd- und Süd-Ost-Asien
4. Universalismus versus Partikularismus. Hier geht es um den kulturell unterschiedlichen Umgang mit Regeln und Vereinbarungen. Wie genau hält man sich an Regeln?
- Universal, z.B. USA, Australien, Kanada, Nord-, Mittel und Westeuropa, Deutschland, England, Schweiz
- Partikular, z.B. Frankreich, Lateinamerika, Asien, Afrika, Süd- und Osteuropa, arabische Länder
5. Direkte versus indirekte Kommunikation. Es geht um das Kennenlernen der verschiedenen Kommunikationsstile (direkte und indirekte Kommunikation), die paraverbale Kommunikation (Stimmlage, Tonfall, Lautstärke, Sprechtempo, Kommunikationsfluss und Sprachmelodie) und die nonverbale Kommunikation (Gesichtsausdruck, Blickkontakt, Gestik, Körpersprache, Körperkontakt, Körperdistanz, Lautstärke und äussere Erscheinung). Die letzteren beiden sind in vielen Kulturen viel wichtiger als die verbale Kommunikation und bekommen daher auch eine andere Bedeutung.
- Direkt, z.B. USA, Kanada, Nordeuropa, Australien, skandinavische Länder, Beneluxländer, Grossbritannien und Deutschland.
- Indirekt, z.B. Asiatische Länder (China, Japan), afrikanische Länder, arabischer Raum, Lateinamerika.
Neben aller Theorie gilt innerhalb zwischenmenschlicher Begegnungen, egal ob aus unterschiedlichen Kulturkreisen oder innerhalb der eigenen Kultur, dass ein offenes Herz, sprich die eigene Empathiefähigkeit und somit das echte Interesse am Gegenüber eine Wärme erzeugt, die man spüren kann und die über viele kleinere und grössere kulturelle Unterschiede hinweg eine Verbindung schafft. Ganz nach dem Motto von J.W. Goethe: “Es muss von Herzen kommen, was auf Herzen wirken soll.”
Erfahren Sie im zweiten Teil dieses Beitrags, welche interkulturellen Unterschiede zwischen Schweizern und Deutschen bestehen. Erhalten Sie ebenso anhand konkreter Situationen Tipps und Empfehlungen für eine gelungene Kommunikation zwischen Vertretern der beiden Nachbarländer.
Quellen und weiterführende Informationen
Dr. Deardoff, D. K. Interkulturelle Kompetenz. (2006). Schlüsselkompetenz des 21. Jahrhunderts? In Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Thesenpapier der Bertelsmann Stiftung auf Basis der Interkulturellen-Kompetenz-Modelle von Dr. Darla K. Deardorff.
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Interkulturelle Kompetenz: Deutschland und Schweiz (2/2)
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