Mythen der Auftrittspsychologie
Marius Born
Kennen Sie die berühmte 7-38-55-Regel? Sie besagt, dass es nicht so sehr darauf ankommt, was man sagt, sondern wie man es sagt. Genauer: Der verbale Anteil einer Botschaft sei nur für 7 Prozent der Wirkung verantwortlich. 38 Prozent der Wirkung gehen auf Stimmlage, Klang, Artikulation, Lautstärke, Tempo und Melodie zurück, und 55 Prozent seien Gestik, Mimik, Blickkontakt, Körperhaltung, Kleidung etc. geschuldet. Was meinen Sie, stimmt das? Vielen Auftrittstrainern zufolge: ja. Sie führen diese «Regel» nämlich gerne ins Feld, um Verkaufsförderung für ihre Management-Seminare zu betreiben. Da ist nur ein Haken: Sie ist falsch. Weitverbreitet zwar, aber falsch. Und sie liegt noch nicht mal im Sinne ihres Erfinders.
Das Mehrabian-Missverständnis
Die ominösen Zahlen gehen auf zwei Untersuchungen aus den 60er-Jahren zurück. Der iranisch-amerikanische Psychologe Albert Mehrabian und seine Kollegen untersuchten, wie Signale bei inkongruenten Botschaften vom Publikum wahrgenommen werden. Dabei diente jeweils ein einziges Wort als Stimulus. Es wurde zum Beispiel ein positives Wort mit einer negativen Tonalität der Stimme kombiniert. In diesem Fall sprachen Hörer der Stimmlage mehr Bedeutung zu als dem Wort an sich. In einer zweiten Studie wurde der mimische Ausdruck anhand von Fotografien mit einbezogen, was rein rechnerisch zu der viel zitierten Gewichtung führte.
In der medialen Verkürzung wurde das dann so dargestellt, dass es eben nicht drauf ankomme was man sagt, sondern wie. Mehrabian wehrte sich später vehement gegen diese Simplifizierung. Er sah ganz klar, dass aus den Ergebnissen dieser Studien keine allgemeingültige Regel für zwischenmenschliche Kommunikation abgeleitet werden kann, und sicher nicht mit einer so krassen Botschaft. Aber die Zahlen waren nun einmal in der Welt, sie trafen auf einen Markt und entwickelten ein Eigenleben.
Wie ist es denn wirklich?
Aus den eben skizzierten Versuchsanordnungen auf eine generelle Bedeutungslosigkeit verbaler Kommunikation zu schliessen, ist natürlich Unfug. Im Gegenteil: Die Substanz des Gesprochenen ist der Hintergrund, vor dem der Rest leuchten kann. Sie bildet die Grundlage für fachliche Autorität und Glaubwürdigkeit. Dennoch hat Mehrabian auf etwas Wichtiges hingewiesen: dass nämlich Wörter ihre Wirkung verfehlen, wenn die übrigen Signale nicht zum Gesagten passen.
Die Substanz des Gesprochenen bleibt wichtig (Symbolbild)
Spielt Charisma auch eine Rolle?
Es ist also mal wieder etwas komplizierter als gedacht. Gibt es da nicht noch etwas, was Mehrabian nicht einmal anzusprechen gewagt hat? Etwas, was die Wirkung von Wörtern auf sehr individuelle Weise verstärkt, oder auch abschwächt? Vielleicht … Charisma? Dieses Wort stammt aus dem Griechischen und bedeutet im ursprünglichen Wortsinn Gnadengabe. Wer wünschte sich nicht, in den Genuss dieses Geschenks der Götter zu kommen? Nur: Wie erreicht man Charisma – also diese ganz besondere Ausstrahlung? Wird es einem in die Wiege gelegt? Oder ist es formbar? Lernbar? Diese Fragen treiben Psychologen wie Managementtrainer gleichermassen um.
John Antonakis von der Universität Lausanne hat Tests mit Führungskräften gemacht und kommt zum Schluss, dass Charisma lernbar ist. Diese Erkenntnis wurde von der Gilde der Managementtrainer ebenso dankbar aufgenommen wie damals die 7-38-55-Regel. Was also ist davon zu halten?
Gewiss, es gibt eine Reihe von vermittelbaren Kommunikationsregeln, die eine Führungskraft dabei unterstützen, die Persönlichkeit wirken zu lassen. Wer es versteht, Botschaften in kraftvollen Geschichten und anschaulichen Bildern zu transportieren, wer den Blickkontakt zum Publikum sucht und dieses zum Partner seiner Rede macht, wird positiver wahrgenommen. Für eine charismatische Ausstrahlung braucht es jedoch mehr, und nicht alles lässt sich leicht beeinflussen. Es gibt Persönlichkeitseigenschaften, die Charisma fördern oder behindern können: Psychische Stabilität, Extraversion und Empathie sind einer charismatischen Ausstrahlung zuträglich, während Verletzlichkeit, Reserviertheit oder starker Narzissmus dem entgegen wirken.
Ist Charisma nun lernbar oder nicht?
Das Wesen einer Persönlichkeit zu erfassen, ist schwierig. Charisma vermittelbar zu machen, ist noch schwieriger. Beginnen wir beim einfacheren: Persönlichkeit hat mit Einzigartigkeit zu tun. Sich seiner Einzigartigkeit bewusst zu werden, sie zu schätzen und strahlen zu lassen, ist eine notwendige Bedingung, damit Charisma entstehen kann. John Antonakis und seine Mitarbeiter unterzogen die untersuchten Manager intensiven Coachings mit aufwendigen Feedbackschlaufen. Wenn Antonakis zum Schluss kommt, Charisma sei erlernbar, dann lag es wohl eher daran, dass die Rückmeldungen zu Person und Verhalten dazu führten, dass sich die Führungskräfte ihrer Persönlichkeit verstärkt bewusst wurden und selber Schritte unternahmen, diese anzunehmen und wirken zu lassen. Charisma als isoliertes, lernbares Merkmal zu betrachten, finde ich deshalb heikel.
Wie kann ich meine Wirkung als Redner verbessern?
Wer sich ehrlich für andere interessiert und zuhören kann, ist auf natürliche Weise sympathisch, ohne sich dabei verstellen zu müssen. Dale Carnegie, ein Klassiker unter den Ratgeber-Autoren, meinte dazu einmal, man könne in zwei Monaten mehr Freunde durch ehrliches Interesse am anderen gewinnen als damit, zwei Jahre lang zu versuchen, andere für sich zu interessieren. Ich denke, er hatte recht. Keinen Namen hören wir lieber als den eigenen. Kein Wunder empfahl Carnegie, immer wieder den Namen des Gesprächspartners in den Dialog einzuflechten.
Wer angestrengt versucht, möglichst charismatisch zu wirken, hat selten Erfolg. Charisma ist das Gegenteil von Anpassung und Anstrengung. Für mich gibt es drei Punkte, die alle charismatischen Menschen verbindet: Leidenschaft, Individualität und Emotionalität. Es braucht ein inneres Feuer für die Sache, die man vertritt. Charismatiker imitieren niemanden, sondern denken und handeln nach eigenen Massstäben. Last, but not least: Charismatische Menschen scheuen sich nicht, Emotionen zu zeigen. Gute Auftrittstrainer stärken das Selbstvertrauen und geben Mut, eigene Wege zu gehen, die mit der Persönlichkeit in Einklang stehen. Sie unterstützen ihr Gegenüber dabei, sich seiner Einzigartigkeit bewusst zu werden, die eigene Persönlichkeit schätzen zu lernen und sie strahlen zu lassen. Denn jeder Mensch kann auf seine Weise strahlen.
Weiterführende Informationen und Quellen:
YouTube Video zum Mehrabian-Missverständnis „Busting the Mehrabian myth"
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