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Viel mehr Menschen betrachten sich als Globalisierungsverlierer, als es aufgrund ihrer wirtschaftlichen Situation tatsächlich sind. (Symbolbild)

Mit Blick auf den Brexit ging Daniel Fuchs in der Aargauer Zeitung vom 29. Juni 2016 der Frage nach, wer eigentlich diese ominösen Globalisierungsverlierer sind, von denen so häufig die Rede ist. Kurios dabei: Trotz der massiven globalen Verlagerungen von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskräften zeigen Statistiken, dass es beispielsweise uns in der Schweiz und auch Grossbritannien gar nicht schlechter, sondern besser geht. Dennoch erstarken im europäischen Raum populistische, EU-kritische Kräfte wie Front National oder Ukip. Die Gründe für deren Zulauf sind komplex. Doch fällt auf, dass sich viel mehr Menschen als Globalisierungsverlierer betrachten, als es aufgrund ihrer wirtschaftlichen Situation tatsächlich sind.

Hier das Interview mit Prof. Dr. Christian Fichter zum Thema Globalisierungsverlierer:

Wie sinnvoll ist der Begriff Globalisierungsverlierer?

Christian Fichter: Ich habe Mühe damit. Zweifellos gibt es Menschen, die von der Globalisierung nicht profitieren. Diese Gruppe ist allerdings alles andere als homogen. Vermutlich gehören ältere Menschen, solche mit einem tiefen Bildungsstand und diejenigen mit einer überdurchschnittlichen Angst vor Überfremdung dazu. Doch «Globalisierungsverlierer» bleibt ein Schlagwort. Der Problematik wird man damit nicht gerecht.

Beschreiben Sie sie.

Man darf nicht vergessen, dass sich die Wirtschaft seit Hunderten von Jahren ausbreitet, also gewissermassen globalisiert. Dies stellte die Menschen immer wieder vor neue Chancen – und Herausforderungen. Dieser Wandel wurde stets von Existenzängsten begleitet. Wenn wir nun das Gefühl haben, damit nicht zurechtzukommen, dann ist es meiner Meinung nach das Zeichen einer zu hohen Geschwindigkeit.

Stellen Sie auch das Ja zum Brexit in diesen Zusammenhang?

Ja. Die Existenzängste werden genährt durch die latente Aktualität: Die Migration, die Flüchtlinge, der Terrorismus, die Euro-Krise, Griechenland – all das wird zu einer bedrohlichen Melange. Den Menschen geht es zu schnell.

Erklärt das zu hohe Tempo auch das Wachsen populistischer Kräfte?

Absolut. Bei den Rechtspopulisten wissen wir zumindest: Wenn die Leute verunsichert sind, dann stimmen sie rechts. Fühlen sie sich dagegen abgesichert, haben sie Perspektiven, dann wählen sie eher links.

Was passiert bei den Menschen auf der rein psychologischen Ebene?

Das Wort Xenophobie lässt sich diesbezüglich nicht wegdiskutieren. Es ist die Angst vor dem Fremden. Diese Angst lässt sich sozialpsychologisch erklären. Dabei wird die eigene Gruppe, also der Clan, die Familie oder das Dorf vor einer äusseren Gruppe geschützt. Sie lässt sich aber auch ökonomisch erklären. Dabei geht um den Kampf um Ressourcen. Menschen schützten schon immer den eigenen Acker vor Fremden. So oder so geht es um den Schutz der Eigengruppe, bei gleichzeitiger Abwertung der Fremdgruppe. Deshalb halte ich die Grundidee der EU eigentlich für sehr gut. Sie will genau diese Eigengruppe vergrössern.

Existenzängsten könnte man mit einer politisch stärkeren Union begegnen, mit einem europäischen Wohlfahrtssystem etwa. Was halten Sie davon?

Es würde nur vordergründig nützen, die Leute mit dem Aufbau eines europäischen Sozialstaats zu kaufen. Hintergründig würde es nicht funktionieren. Aus zwei Gründen: Die Tradition und die Wurzeln sind in der Eigengruppe sehr stark verwurzelt. Die EU ist nur ein dünnes Mäntelchen, das ein Windstoss allzu leicht wegfegt. Der zweite Grund: Die EU hat gezeigt, dass sie das komplexe Geflecht von multilateralen Interessen nicht unter einen Hut bringen kann. Dazu bräuchte sie flexiblere Ansätze, die sich evolutionärer weiterentwickeln. Anstatt, koste was wolle, mit einem grossen Projekt zu kommen, sollte die EU etwas Tempo rausnehmen. Ohne dabei das Fernziel von Frieden und Wohlstand aus den Augen zu verlieren. Man darf die Menschen nicht mit dem Tempo überfordern.

Wirtschaftspsychologie - Interview - EU Menschen geht es zu schnell

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