Gemäss der letzten Umfrage von Manpower (2016/2017 Talent Shortage Survey) bekunden 40 Prozent aller weltweit befragten Unternehmen Schwierigkeiten, ihre offenen Stellen zu besetzen. In der Schweiz sind es zwar nur halb so viele. Dafür stehen dort Führungskräfte („Direktoren und oberes Kader“) im Ranking der am meisten gesuchten Talente bereits an zweiter Stelle, gleich nach Facharbeitenden. Und dies, obwohl seit Jahren von flacheren Hierarchien – etwa bei den Banken – und von der Eliminierung ganzer Führungsebenen die Rede ist. In Deutschland wiederum machen sich Zukunftssorgen bemerkbar, weil nur 13 Prozent (!) der von Manpower befragten 20-34 jährigen Berufstätigen angeben, eine Führungsrolle anzustreben.

Müssen sich Unternehmen mit einem neuen Phänomen des Führungskräftemangels abfinden? Die Antwort ist ein klares Nein, wenn folgendes berücksichtigt wird:

  • Die Möglichkeiten, erfolgversprechende Leader innerhalb des Unternehmens aufzuspüren, sind oft gerade bei grossen Firmen bei weitem nicht ausgeschöpft. Hauptproblem vieler Unternehmen ist dabei, dass ihnen Mechanismen fehlen, „versteckte“ Talente zu identifizieren. Diese werden aufgrund von Geschlecht, Alter, Herkunft, unkonventionellem Werdegang oder anderen dem Mainstream widersprechenden Eigenschaften bewusst oder unbewusst übersehen; oder sind aufgrund etwa von Introversion weniger bereit, sich proaktiv zu positionieren. In einer Studie des McKinsey Quarterly (Finding Hidden Leaders, Januar 2017) zeigen die Autoren Lane, Larmaraud und Yueh auf, wie durch „Hunting“ (systematische Ausschau), „Fishing“ (Anreize zur Selbstidentifikation) oder „Trawling“ (Aufruf an die Organisation, potentielle Leader zu nominieren, z.B. durch ein Snowball Sampling über soziale Medien) eine bessere Nutzung des in der Organisation vorhandenen Leadership Potentials ermöglicht wird.
  • Wer sich die gängige Praxis zahlreicher Unternehmen ansieht, stellt fest, dass weiterhin viel zu wenig Zeit und Aufmerksamkeit in den Rekrutierungsprozess investiert wird – nicht etwa, weil sich wenig Bewerbende melden, sondern weil die vorhandenen Bewertungs- und Selektionsmöglichkeiten nur unzureichend ausgeschöpft bleiben. Grössere unternehmensspezifische Problemstellungen als Testaufgabe, 360-Grad-Assessment durch Einbezug diverser Teammitglieder in den Interviewprozess und ein erneutes formelles Beurteilen der Eignung gegen Ende der Probezeit fallen darunter. Wer kennt eine Führungskraft, welche die Probezeit nicht bestanden hat? Das Eingeständnis, sich anfänglich getäuscht zu haben, mag man nicht. Dies erschwert oder verunmöglicht eine rasche Nachbesetzung mit einer geeigneteren Alternative.              
  • Die weiterhin verbreitete Auffassung, Führungskräfte müssten innerhalb des Unternehmens in steten Wettbewerb zueinander versetzt werden (etwa durch Prämierung von Individual- statt Teamleistung oder durch ein Forced Ranking), führt nicht nur zu erhöhter Fluktuation, sondern missachtet die längst bekannten negativen Auswirkungen auf Zusammenarbeit, Informationsfluss und den Austausch von Best Practices – zentrale Erfolgsfaktoren jedes Unternehmens (vgl. die ein Vierteljahrhundert alten Erkenntnisse von Alfie Kohns Klassiker No Contest: The Case Against Competition, 1992).
  • Zuletzt sei darauf verwiesen, dass das scheinbare Problem, geeignete Talente finden zu müssen, oft das wahre Problem überdeckt: Unternehmen fehlt bisweilen ein aus klaren Führungsprinzipien, dezentraler Verantwortung und kontinuierlich optimierten Prozessen bestehendes System, welches zwar nicht ohne die darin wirkenden Führungskräfte operieren kann, von diesen aber wesentlich weniger abhängig ist, als man glaubt: Führungskräfte und insbesondere CEOs sind das sichtbarste Element einer Organisation – ihr Einfluss auf das Geschäftsergebnis wird aber systematisch überschätzt, wie immer wieder nachgewiesen (vgl. etwa Carroll und Hannan, The Demography of Corporations and Industries, 2000).

Die sich aus dem globalisierten Wettbewerb und rasch wandelnden Technologien ergebenden Anforderungen an Unternehmen sind enorm. Leadership ist ein knappes Gut, auf allen Hierarchiestufen. Statt sich aber auf einen Führungskräftemangel zu kaprizieren, sollten stattdessen eine Reihe unternehmensinterner Hausaufgaben angegangen werden.

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Alexander Roitinger, Verfasser dieses Beitrags, ist Dozent in den Studiengängen CAS FH in Leadership und Management und CAS FH Leadership Advanced der Kalaidos Fachhochschule.

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