Achtsamkeit ist eher ein Thema, das man im Zusammenhang mit Stress und Burnout erwartet und weniger im Arbeitsalltag. Und doch wird dieser Wert immer wichtiger, gerade wenn ich im Beruf etwas erreichen will. Die Deutschen bringen die verbalen Formen des „ich bekomme, ich kriege, ich tue und ich kann“ in die Sprache und damit auch in das Denken Vieler, vor allem „junger“ dynamischer, ehrgeiziger Schweizer.

Ich-Mentalität, Egoismus und „Ich-Zentriertheit“ nehmen zu

Nun ist gerade in mehr städtischen Gebieten zunehmend eine stärkere Ich-Mentalität, ein Egoismus bis fast hin zu „Ich-Zentriertheit“ zu bemerken. Nicht umsonst sind gesellschaftlich und verbal die Worte der „Selbstverwirklichung“, die „Ich-AGs“, „mein Auto“, „mein…“ usw. in grossem Umlauf. Oft vergessen wir unsere Achtsamkeit im Alltag und sind getrieben alles ganz schnell und effizient zu erledigen. Dabei stören uns scheinbar Andere, wir ärgern uns: auf der Autobahn, beim Anstehen am Zug, auf der Strasse, beim Warten auf einen Anruf, beim Erledigen von Aufgaben im Beruf usw.

Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin selbst Deutsche und seit 13 Jahren in der Schweiz, fühle mich hier pudelwohl, sehr integriert und trotz deutschem Akzent, zumeist – zumindest vordergründig - akzeptiert. Ich selbst war eher eine „Ellbogenfrau“, zumindest verbal und in meinen Reaktionen, als ich hier her kam. Was soll nun das Thema „Achtsamkeit“? Das  was mir bei den Schweizern als erstes aufgefallen ist, als ich hierher kam, war die Achtsamkeit. Die Menschen hier waren achtsam beim Bäcker, beim Anstehen an der Kasse, beim Grüssen auf dem Gang, beim Autofahren, beim „nicht Übervorteilen“. Selbst auf der Bahnhofsstrasse in Zürich kurz vor Weihnachten, waren „die Fussgänger achtsam mit anderen Fussgängern“, wie mir eine damalige Kollegin aus Düsseldorf berichtete. Ich selbst habe das sehr genossen und mir mittlerweile auch diese Tugend bewusst angeeignet. Es macht Freude, auf so einfache, schnelle Art, Anderen eine Freude zu machen.

Was mir in letzter Zeit aber auffällt, ist das „Verlieren der Achtsamkeit“. Kaum jemand grüsst noch, kaum jemand lässt einen anderen Autofahrer im engen Berufsverkehr vor, nur beim Bäcker klappt es noch mit der Achtsamkeit. Und dieser Verfall der Achtsamkeit hat auch im Berufsleben zugenommen. Kaum einer antwortet noch auf ein Mail, bei der irrsinnigen Mailflut mit den Euroverteilern und dabei ist gerade ein „Herzlichen Dank für die Infos“, “Ich denke darüber nach“ oder ein „Wie schön von Ihnen zu hören..“ ein 1-minütiger Aufwand und für den Empfänger ein richtiger „Aufsteller“.

Als Deutsche verfalle ich in Stress- oder Drucksituationen gerne in alte Muster und starte dann wieder mit dem „ich kriege“, „ich bekomme“ oder „ich kann“. Heutzutage fällt mir dann glücklicherweise durch das „Schweizermachertraining“ die entgleisten Gesichtszüge meines Gegenübers auf, wodurch ich dann kontern kann „Entschuldigung, jetzt war ich wieder zu Deutsch und direkt“ und ich erlebe, dass ich mit dieser aufmerksamen Verhaltensweise und den von Euch Schweizern gelernten achtsamen Umgangsformen, viel eher meine Ziele erreiche, als mit einer egoistischen direkten Art, wie ich sie früher hatte.

Mir fällt dazu Schulz von Thun und sein „Wertequadrat“ ein: Wenden wir unsere Ideen auf das Wertequadrat an: Alles sollte in Balance sein,

  • der gesunde Egoismus, seine eigenen Bedürfnisse, Ziele und Interessen zu erkennen und als Wunsch, Frage oder Information in Worte zu fassen und mit einem guten Ton („le ton fait la musique“) dem Gegenüber mit zu teilen und
  • die Achtsamkeit, dass mein Gegenüber nicht mein „Untergebener“ und „Glückserfüller“ ist und auch sie oder er mit meiner Wertschätzung für seine Bedürfnisse, Ziele und Interessen eventuell eher bereit ist,

1.  mir zu helfen, 2.  mit mir etwas zu erarbeiten, 3.  mit mir neue Wege zu gehen oder 4.  mir auch einen Gefallen zu tun

Wie können wir also wieder achtsamer werden?

Der erste Weg zur Achtsamkeit, ist der Weg über uns selbst. Erst wenn wir wieder achtsam mit uns und unseren Wahrnehmungen werden, können wir auch anderen Menschen achtsam gegenübertreten.
  • Gehen Sie 10 Minuten vor die Tür geben Sie sich den Auftrag mit irgendetwas Schönem zurückzukommen. Das kann ein Gegenstand, eine Idee, ein Gefühl, ein Bild etc. sein. Sicher werden Sie selbst in scheinbaren Betonwüsten schöne „Gegenstände“ finden.
  • Entschleunigen Sie! Üben Sie das Inne-Halten in dem Sie bewusst solche Situationen suchen (z.B. Mitmachen bei slowUp) oder beim Geniessen von Slow Food.
  • Aktives Stresstraining (Fachbegriff des „Mindfulness Based Stress Reduction" (MBSR) – Stressbewältigung durch Achtsamkeit) z.B. durch Wahrnehmen des Wasserstrahles in der Dusche am Morgen.

Und wenn wir dann den Kollegen früh morgens nach der schönen Dusche anlächeln und bewusst anschauen, dann ist schon der erste Schritt zu Achtsamkeit und Toleranz dem Kollegen gegenüber gemacht. Ein früherer Chef von mir sagte immer: „Wenn Du ein Ziel schnell erreichen willst, dann mache einen Umweg“… und unser Umweg könnte die Achtsamkeit sein!

Quellen und weiterführende Informationen

Schulz von Thun, Friedemann (2006): Klarkommen mit sich selbst und anderen. Reinbek: Rowohlt.

Jon Kabat-Zinn: Zur Besinnung kommen. Die Weisheit der Sinne und der Sinn der Achtsamkeit in einer aus den Fugen geratenen Welt. Arbor Verlag, 2006.

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