Tablet mit Text Invalidität und unklare Beschwerdebilder Tablet mit Text Invalidität und unklare Beschwerdebilder
Psychosomatische Leiden als "unklare Beschwerdebilder" sind im Sozialversicherungsrecht allgegenwärtig (Symbolbild).

Was sind "unklare Beschwerdebilder"?

Invalidität ist die voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde ganze oder teilweise Erwerbsunfähigkeit (Art. 8 Abs. 1 ATSG). In der Rechtspraxis ist anerkannt, dass insbesondere psychosomatische Leiden einer versicherten Person – unter Erfüllung der entsprechenden gesetzlichen Voraussetzungen (Art. 16 ATSG i.V.m. Art. 28a IVG) – einen Anspruch auf Invalidenleistungen (vgl. insbesondere Art. 17 IVG oder Art. 28 IVG) begründen lassen können.

Psychosomatische Leiden werden auch als "unklare Beschwerdebilder" bezeichnet, welche sich nicht bildgerecht nachweisen lassen, wobei hierunter vor allem die nachfolgenden Beschwerdebilder zu zählen sind: somatoforme Schmerzstörungen; Fibromyalgie (chronische Schmerzstörung); dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen; HWS-Distorsion ohne nachweisbare organische Funktionsausfälle; nichtorganische Hypersomnie (Schlafsucht); Neurasthenie; das chronische Müdigkeitssyndrom mit Ausnahme der cancer related fatigue (UELI KIESER, Schweizerisches Sozialversicherungsrecht, 2. A., Zürich/St. Gallen 2017, S. 258 f. N 115).

Alte Praxis: Überwindbarkeitsvermutung

Unklare Beschwerdebilder begründeten bis in das Jahr 2015 grundsätzlich nur in Ausnahmefällen Leistungen der Invalidenversicherung (IV). So sind somatoforme Schmerzstörungen nur als leistungsbegründend angesehen worden, wenn Schmerzangaben durch damit korrelierende, fachärztlich schlüssig feststellbare Befunde hinreichend erklärbar sind (BGE 130 V 352 E. 2.2.2). Mit Blick auf unklare Beschwerdebilder, wie die somatoforme Schmerzstörungen, ging die Rechtsprechung über Jahre hinweg von der gesetzlichen Vermutung aus, dass der versicherten Person eine Willensanstrengung zuzumuten sei, mit welcher die Folgen einer somatoformen Schmerzstörung (oder eines gleichgestellten Krankheitsbildes) überwunden werden könnte (vgl. BGE 141 V 281 E. 3.3.1; 131 V 49 E. 1.2; sog. "Überwindbarkeitsvermutung"). Diese gesetzliche Vermutung führte zwar zu einem starken Rückgang des Anstiegs von IV-Renten, welcher seit Anfang der 2000er Jahre auszumachen war; die Überwindbarkeitsvermutung war medizinisch aber nicht unumstritten, weil sie nicht auf einer festen medizinischen Basis gestanden hatte (m.w.H. KIESER, a.a.O., S. 258 f. N 115 ff.).

Neue Praxis: Strukturiertes Beweisverfahren

Mit BGE 141 V 281 wurde diese gesetzliche Vermutung vollständig aufgegeben: Nach Aufgabe des Konzepts der Vermutung konzentriert sich die Beurteilung des funktionellen Leistungsvermögens nicht mehr auf die Widerlegung einer Ausgangsannahme, die Schmerzstörung sei nicht invalidisierend. Im Fokus stehen daher vermehrt auch Ressourcen, welche die schmerzbedingte Belastung kompensieren können und damit die Leistungsfähigkeit begünstigen (BGE 141 V 281 E. 4.1.1). Dieser neue Ansatz führte zu einem strukturierten Beweisverfahren, welches eine ergebnisoffene Beurteilung des funktionellen Leistungsvermögens als zentralem Beweisgegenstand im Fokus hat (BGE 141 V 281 E. 4.1.2). Die im Regelfall beachtlichen Standardindikatoren stellen sich wie folgt dar (zum Ganzen BGE 141 V 281 E. 4.1.3):

Kategorie "funktioneller Schweregrad"
Komplex "Gesundheitsschädigung"
Ausprägung der diagnoserelevanten Befunde
Behandlungs- und Eingliederungserfolg oder -resistenz
Komorbiditäten
Komplex "Persönlichkeit" (Persönlichkeitsdiagnostik, persönliche Ressourcen)
Komplex "Sozialer Kontext"

Kategorie "Konsistenz" (Gesichtspunkte des Verhaltens)
gleichmässige Einschränkung des Aktivitätenniveaus in allen vergleichbaren Lebensbereichen
behandlungs- und eingliederungsanamnestisch ausgewiesener Leidensdruck.

Das massgebende Beweismittel hinsichtlich des strukturierten Beweisverfahrens sind hauptsächlich medizinische Behandlungsberichte, Arztberichte, Hausarztberichte und vor allem medizinische Gutachten, die die jeweils zuständigen kantonalen IV-Stellen bei externen medizinischen Gutachterstellen einholen lassen (vgl. Art. 44 ATSG). In diesem Sinne lautet die normativ bestimmte Gutachterfrage, wie die sachverständige Person das Leistungsvermögen konkret einschätzt, wenn sie dabei den einschlägigen Indikatoren folgt (BGE 141 V 281 E. 5.2.2). Die Rechtsanwender, namentlich die zuständigen kantonalen IV-Stellen, überprüfen die betreffenden Angaben frei, insbesondere daraufhin, ob die Ärzte sich an die massgebenden normativen Rahmenbedingungen gehalten haben, das heisst, ob sie ausschliesslich funktionelle Ausfälle berücksichtigt haben, welche Folgen der gesundheitlichen Beeinträchtigung sind (Art. 7 Abs. 2 erster Satz ATSG), sowie, ob die versicherungsmedizinische Zumutbarkeitsbeurteilung auf objektivierter Grundlage erfolgt ist (BGE 141 V 281 E. 5.2.2). Dieser weite Ermessenspielraum der Rechtsanwender kann insbesondere dazu führen, dass sich die kantonalen IV-Stellen nicht an die im medizinischen Gutachten festgestellte Erwerbsunfähigkeit nach Art. 7 ATSG (oder Arbeitsunfähigkeit nach Art. 6 ATSG) halten muss (vgl. BGE 144 V 50, in welchem eine von einer Gutachterstelle festgestellte 50%ige Arbeitsunfähigkeit nicht übernommen worden ist und bei welchem einer versicherten Person ein Anspruch auf Invalidenrente trotz einer medizinisch dargelegten Arbeitsunfähigkeit verneint worden ist). Dieser weite Ermessenspielraum ist in der juristischen Lehre teilweise sehr umstritten (so etwa bei MASSIMO ALIOTTA, Begutachtungen im Bundessozialversicherungsrecht, Gehörs- und Partizipationsrechte der versicherten Person bei Begutachtungen im nichtstreitigen Verwaltungsverfahren gemäss ATSG, Diss. Zürich, Zürich/Basel/Genf 2017, S. 78 f.).

Autor/in
Dr. iur. Marco Weiss

Dr. iur. RA Marco Weiss

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