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Wie sich Menschen in Interaktion mit anderen Menschen verhalten und sich gegenseitig beeinflussen, stellt die Psychologie immer wieder vor Rätsel. (Symbolbild)

Wie verhalten sich Individuen in Gruppen? Inwiefern ändern sie ihr Verhalten, wenn sozialer Druck ausgeübt wird? Im ersten Beitrag unserer Serie der psychologischen Experimente präsentieren wir Ihnen unsere drei Lieblingsexperimente zum Thema «Gruppendynamik und Gruppeneffekte».

Der Zuschauereffekt

Am 13. März 1964 macht sich die US-Amerikanerin Kitty Genovese spätabends auf den Nachhauseweg. Allerdings schafft sie es nie bis zu ihrer Wohnung: auf dem Weg wird sie ausgeraubt, vergewaltigt und erstochen. Was den Fall besonders macht und zahlreiche Forschende dazu bewegte, das Ereignis wissenschaftlich zu untersuchen: Der Überfall geschah nicht unbemerkt. Laut unterschiedlichen Zeugenaussagen haben bis zu achtunddreissig Personen den Mord mitbekommen. In die Situation eingegriffen und dem Opfer geholfen hat aber niemand. Dieses Ereignis warf viele Fragen auf. Wieso zeigten die anwesenden Personen keine Zivilcourage? Weshalb eilte niemand dem Opfer zur Hilfe?

Der Vorfall inspirierte Latané und Datley zu ihrer Forschung. 1970 führten sie eine Studie durch, bei der die Teilnehmenden in Einzelkabinen sassen und über eine Gegensprechanlage an einer Gruppendiskussion teilnahmen. Dabei hatte einer der Teilnehmenden plötzlich einen epileptischen Anfall, rief um Hilfe und verstummte dann plötzlich. Dies geschah allerdings nur auf Band: Es gab nämlich nur einen Probanden im Experiment, alle anderen Stimmen in der Diskussion waren zuvor aufgezeichnete Stimmen. Wenn die Versuchsperson glaubte, als einzige Person den Anfall gehört zu haben, wurde in 85 Prozent der Fälle innert 60 Sekunden geholfen. Falls die Teilnehmenden aber glaubten, dass eine weitere Person zuhört, halfen innerhalb einer Minute nur 62 Prozent der Personen. Falls die Probanden dachten, es bekämen noch vier weitere Personen den Vorfall mit, halfen nur 31 Prozent innerhalb von 60 Sekunden. Diese Studie und auch unzählige andere Studien kamen zum Schluss, dass je grösser die Anzahl der Zuschauenden bei einem Vorfall ist, desto tiefer ist die Bereitschaft der Einzelnen, dem Opfer zu helfen. Dieses Phänomen wird als Zuschauereffekt bezeichnet.

Mit der Zeit stellte sich allerdings auch heraus, dass beim Fall von Kitty Genovese nicht alles so stattgefunden hat, wie in den Zeitungen damals berichtet worden ist. Beispielsweise waren nicht achtunddreissig Zeugen vor Ort; das entsprach lediglich der Anzahl Vernehmungen durch die Polizei.

Der Name des Spiels

Wie stark werden Individuen von ihrem sozialen Umfeld beeinflusst? Diese Frage wird in der Sozialpsychologie oft gestellt. Zurecht, denn in der Vergangenheit traten immer wieder Situationen in Gruppen auf, die aus psychologischer Sicht nicht leicht zu erklären waren. Darunter beispielsweise auch das Jonestown-Massaker von 1978. Der Sektenführer Jim Jones schaffte es damals, seine rund tausend Anhänger:innen in ihrem abgelegenen Camp im Dschungel von Guyana in den Massensuizid zu treiben. Dabei starben über 900 Menschen. Ähnliches ereignete sich auch schon an anderen Orten: In den 90er Jahren finden Gruppensuizide in der Sonnentempler-Sekte in der Schweiz, Kanada und Frankreich statt. Ähnliche Fälle ereignen sich in den USA und in Uganda. Solche Begebenheiten werden in der Bevölkerung gerne mit dem Fundamentalen Attributionsfehler erklärt. Das bedeutet, dass situative Einflüsse unterschätzt und die Bedeutung der subjektiven Persönlichkeitseigenschaften überschätzt werden. Ganz nach dem Motto: «Die Opfer dieser Verschwörungskults waren schon im Vorhinein anfällig für solche Manipulationen, mir selbst würde so etwas nicht passieren können.»

Allerdings spielen soziale Einflüsse und der Einfluss der Situation eine nicht zu unterschätzende Rolle. Das konnten auch Ross und Samuels 1993 in einem Experiment aufzeigen. Sie suchten eine Gruppe an Studierenden der Universität Stanford aus, die entweder als besonders kooperativ oder besonders konkurrenzfähig eingestuft wurden. Diese Personen wurden dazu eingeladen, ein Spiel mitzuspielen. Dabei wurde der einen Hälfte der Teilnehmenden gesagt, das Spiel heisst «Das Wall-Street-Spiel» und der anderen Hälfte wurde gesagt, es handelt sich um «das Gemeinschaftsspiel». Dabei war es in beiden Fällen ein und dasselbe Spiel. Wie erwartet hatte der Name des Spiels einen erheblichen Einfluss auf das Spielverhalten der Teilnehmenden. Beim Wall-Street-Spiel spielten zwei Drittel der Teilnehmenden konkurrenzorientiert, während beim Gemeinschaftsspiel dies nur bei einem Drittel der Teilnehmenden der Fall war. Dabei hatten die Persönlichkeitseigenschaften der Spielenden keinen Einfluss auf ihr Spielverhalten. Somit konnte gezeigt werden, dass die äusseren Gegebenheiten eine wichtige Rolle beim Verhalten eines Einzelnen spielen.

Der Einfluss der Gruppe

Ein weiteres Experiment, mit dem versucht wurde, menschliches Verhalten in Gruppen zu erklären, war das Konformitätsexperiment von Solomon Asch. Ausschlaggebend für die Idee war ein ähnliches Experiment, das in den 30er Jahren durchgeführt wurde. Dabei konnte gezeigt werden, dass bei einer einfachen Schätzaufgabe wie der Anzahl Bohnen in einem Glas die Versuchsteilnehmenden ihre Einschätzungen klar den Meinungen in der Gruppe anpassten. Auch in einer Studie von Sherif zur Schätzung von Bewegungen von Lichtpunkten in der Dunkelheit zeigte sich, dass sich zuvor getätigte individuelle Schätzungen später in der Gruppe zu einer gemeinsamen Schätzung entwickelten und somit das Individuum von der subjektiven Einschätzung zu Gunsten einer gemeinsamen Gruppennorm abwich. Asch wollte dann in den 50er Jahren beweisen, dass in einer völlig eindeutigen Situation wie der Beurteilung der Länge von Linien, die sich sichtlich voneinander unterschieden, die Menschen objektiv urteilen können und kein konformes Verhalten an den Tag legen. Dafür sassen eine Reihe von Personen an einem Tisch. Eine davon war eine Versuchsperson, die anderen waren von der Versuchsleitung in das Experiment eingeweiht. Die Versuchsperson dachte aber, dass es sich bei allen Personen an dem Tisch um Versuchspersonen handelte. Den Teilnehmenden wurde eine Referenzlinie und drei weitere Linien unterschiedlicher Länge gezeigt. Dann erhielten sie von der Versuchsleitung eine scheinbar sehr einfache Aufgabe: Sie sollten sagen, welche der drei Linien identisch mit der Referenzlinie war. Dabei gaben nach einigen normalen Durchläufen alle bis auf die eigentliche Versuchsperson wissentlich eine falsche Antwort, um zu sehen, wie die Versuchsperson reagieren würde. Es stellte sich heraus, dass sich erstaunlich viele Versuchsteilnehmende mit den offensichtlich falschen Antworten der anderen Teilnehmenden konform zeigten. 76 Prozent der Teilnehmenden gaben bei mindestens einem Durchgang eine offensichtlich falsche Antwort an, um mit den Antworten der Gruppe zu harmonieren. Eine mögliche Erklärung hierfür ist der normative soziale Einfluss: das Bedürfnis eines Einzelnen, sein Verhalten dem der Gruppe anzupassen, um nicht negativ aufzufallen.

Ausblick

Herauszufinden, wie sich Menschen in Interaktion mit anderen Menschen verhalten und sich gegenseitig beeinflussen, stellt die Psychologie immer wieder vor Rätsel, aber auch neuen spannenden Erkenntnissen. Nebst diesen drei vorgestellten Experimenten gibt es noch unzählige weitere, bei denen es sich lohnt, diese genauer unter die Lupe zu nehmen. Im nächsten Blogbeitrag stellen wir Ihnen unsere Lieblingsexperimente zum Thema «Gedächtnis» vor.

Quellen und weiterführende Informationen:

Aronson, E., Wilson, T. & Akert, R. (2014). Sozialpsychologie (8., aktualisierte Aufl.). Hallbergmoos: Pearsons Deutschland GmbH.

Berhorst, R. (2008). Jonestown-Massaker 1978: Das Grauen von Guyana. Verfügbar unter: https://www.geo.de/magazine/geo-kompakt/7041-rtkl-glaube-und-religion-sekten-jonestown-massaker-1978

Liberman, V., Samuels, S. M. & Ross, L. (2004). The Name of the Game: Predictive Power of Reputation Versus Situational Labels in Determining Prisoner’s Dilemma Game Moves. Personality and Social Psychology Bulletin 30(9), 1175 – 1185.

Manning, R., Levine, M., & Collins, A. (2007). The Kitty Genovese murder and the social psychology of helping: The parable of the 38 witnesses. American Psychologist, 62(6), 555–562. https://doi.org/10.1037/0003-066X.62.6.555

Autor/in
Lea Schlenker

Lea Schlenker

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Bachelor of Science FH in Angewandter Psychologie

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