Mann und Frau auf 360-Grad-Kreis Mann und Frau auf 360-Grad-Kreis
Das 360-Grad-Feedback integriert neben der Einschätzung des ode der eigenen Vorgesetzten und einer Selbsteinschätzung auch die Perspektiven von Peers, anderen Führungspersonen, Kunden und Kundinnen und/oder oder externen Dienstleistern. (Symbolbild)

Die Leistungsbeurteilung von Mitarbeitenden entwickelt sich im Zuge der Digitalisierung und Demokratisierung von Unternehmen immer mehr zu einem partizipativen Prozess. Wenn Mitarbeitende immer selbstständiger, projektbezogen oder remote arbeiten, wird es für Vorgesetzte schwieriger, die Leistungen der einzelnen Teammitglieder einzuschätzen. Damit gewinnen 360-Grad-Feedbacks zunehmend an Bedeutung. Eine 360-Grad-Beurteilung bedeutet, dass ein:e Mitarbeiter:in von möglichst vielen beruflichen Ansprechpartnern bewertet wird. Hinzu kommt eine Selbsteinschätzung. Gehört das klassische Feedbackgespräch zwischen Mitarbeitenden und Vorgesetzten also bald der Vergangenheit an? Und welchen (Mehr-)Wert kann ein (digitales) 360-Grad-Feedback bieten?

Was ist 360-Grad-Feedback und warum ist es sinnvoll?

Sowohl die klassische Leistungsbeurteilung als auch das moderne 360-Grad-Feedback zielen darauf, besondere Talente zu erkennen und zu fördern. Letztlich sollen beide Instrumente dazu beitragen, die Leistungsfähigkeit und das Arbeitsklima einer Organisation zu verbessern.

Im Unterschied zur klassischen Leistungsbeurteilung integriert das 360-Grad-Feedback neben der Einschätzung des oder der eigenen Vorgesetzten und einer Selbsteinschätzung auch die Perspektiven von Peers, anderen Führungspersonen, Kunden und Kundinnen und/oder oder externen Dienstleistern. Es wird insbesondere im Rahmen von Entwicklungsprogrammen von Führungspersonen verwendet, beispielsweise wenn es um eine Beförderung geht. Es wird aber auch zur Identifikation des Optimierungsbedarfs der Führungskultur im Unternehmen eingesetzt.

Weil das 360-Grad-Feedback aus mehreren verschiedenen Blickwinkeln  (Fremdbild und Selbsteinschätzung) stammt, fällt die Rückmeldung objektiver und differenzierter aus als die klassische Leistungsbeurteilung. Somit lassen sich unentdecktes Potenzial und ungenutzte Fähigkeiten erkennen, was beiden – der beurteilten Person und dem Unternehmen – Vorteile bringen. Eine umfassende «Rundum»-Beurteilung wirkt glaubwürdiger und stösst auf eine höhere Akzeptanz als die klassische-Top-Down-Beurteilung. Nicht zuletzt kann ein 360-Grad-Feedback das Gefühl ernst genommen zu werden verstärken und damit das Vertrauen des Feedbackgebenden und -nehmenden in die Organisation erhöhen. Die Institutionalisierung von regelmässigen 360-Grad-Feedbacks kann zudem eine allgemeine Feedbackkultur sowie eine offene Kommunikation und höhere Transparenz innerhalb des Unternehmens fördern.

Was soll genau beurteilt werden?

Mit dem 360-Grad-Feedback werden beobachtbare Verhaltensweisen gemessen, die für bestimmtes Fachwissen, persönliche und soziale Kompetenzen (z.B. Zielorientierung, Teamorientierung) und Werte (z.B. Nachhaltigkeit) stehen. Beispiele für beobachtbare Verhaltensweisen, welche die Kompetenz Kommunikation beschreiben, sind: "lässt mich ausreden" oder "gibt mir das Gefühl, meine Sichtweise wirklich verstehen zu wollen". Die Operationalisierung von solchen abstrakten Begriffen ist ein entscheidender Faktor, ansonsten kann jede:r etwas anderes darunter verstehen. Zudem muss ein klarer Bezug zu den lang- und kurzfristigen Erfolgsfaktoren (Kennzahlen) erkennbar sein.

Wie läuft ein 360-Grad-Feedback ab?

  1. Zieldefinition, Planung und Vorabinformation: Zuerst gilt es festzulegen, zu welchem Zweck das 360-Grad-Feedback dienen soll. Geht es um die Entwicklung von Führungstalenten, der Verbesserung der Führungskultur oder die Etablierung einer unternehmensweiten institutionalisierten Leistungsbeurteilung? Ausserdem muss eine passende Zeitspanne für die Befragung ermittelt werden. Danach müssen alle erforderlichen Feedbackgebenden identifiziert sowie über Ziel und Ablauf des Instruments informiert werden.
  2. Entwicklung des Fragebogens: Bei der Gestaltung der Umfrage sind die Themenbereiche festzulegen. Beispiele dafür sind Information, Kommunikation und Teamentwicklung, Planung und Organisation, Kundenorientierung und eine globale Denkweise. Bei der Formulierung der Feedback-Fragen ist zu beachten, dass sie aussagekräftig und unternehmensspezifisch sein. Ferner ist zu klären, mit welchem Anbieter die Umfrage durchgeführt werden soll. Verschiedene Anbieter stellen fertige Vorlagen zur Verfügung, mit denen Unternehmen selbst ihr eigenes 360-Grad-Umfrage-Tool erstellen können.
  3. Durchführung: Am effizientesten ist es, alle Personengruppen gleichzeitig zu befragen. Es empfiehlt sich, vor dem Abschluss der Befragung eine Nachricht zu versenden, um an die Teilnahme zu erinnern.
  4. Analyse und Auswertung: Aus den ausgefüllten Fragebögen wird das Feedback zusammengeführt und ausgewertet. Daraus entstehen 360-Grad-Profile in Form von übersichtlichen Grafiken. So offenbart der Vergleich von Selbst- und Fremdbild die Abweichungen vom Sollprofil und in welcher Hinsicht die beurteilten Personen Stärken und Schwächen aufweisen.
  5. Debriefing und Umsetzung: In dieser Phase werden die Ergebnisse mit der bewerteten Person besprochen. Je nach Zielsetzung der Befragung eignet sich hierzu die Führungsperson (institutionalisierte Leistungsbeurteilung), eine neutrale Person oder ein:e externe:r Coach:in (Verbesserung der Führungskultur). So können gemeinsam individuelle Strategien entwickelt werden, welche die Potenziale fördern und Schwächen ausgleichen. Zu den spezifischen Massnahmen gehören beispielsweise Weiterbildungen, Coachings oder Praxiseinsätze im Unternehmen. Entwicklungen und Fortschritte sind dabei in regelmässigen kleineren Feedbackgesprächen zu dokumentieren
  6. Wiederholung: Um die Wirksamkeit der Umsetzung zu messen, empfiehlt sich, das 360-Grad-Feedback nach ca. sechs Monaten zu wiederholen. So lässt sich ermitteln, inwiefern die angestrebten Verhaltensänderungen in die Tat umgesetzt wurden. Dabei sollen die gleichen Kompetenzen, jedoch mit Fokus auf deren Veränderung, abgefragt werden.

Was sind mögliche Nachteile?

Im Vergleich zur klassischen Leistungsbeurteilung ist beim 360-Grad-Feedback der Aufwand an Zeit und Ressourcen deutlich höher. Fragebögen müssen entwickelt und die Teilnehmenden über Ziele und Ablauf informiert werden. Nach der Befragung müssen die Resultate zusammengeführt und ausgewertet werden. Wenn Mitarbeitende ihre Vorgesetzten oder ihre Peers beurteilen müssen, kann es sein, dass sie ihre Aussagen beschönigen, um allfälligen Unannehmlichkeiten aus dem Weg zu gehen. Eine unveröffentlichte interne Studie in einem grossen schweizerischen Unternehmen hat gezeigt, dass die gegenseitige Beurteilung innerhalb mehrerer Teams abgesprochen waren und sich bei sehr guten Feedbackresultaten der Bonus erhöht hat (Jonasson, Chlopszik, Lippman & Beutter, 2019). Genauso kann es aber vorkommen, dass Mitarbeitende die Befragung nutzen, um Frust abzulassen.

Wie kann 360-Grad-Feedback gelingen?

Unabhängig davon, ob ein Feedback in einem 360-Grad-Setting erfolgt, zeigt die Forschung, dass Feedback nicht generell die Leistung von Mitarbeitenden verbessert. Feedback wirkt jedoch dann am besten, wenn es in Kombination mit anderen Interventionen (z.B. Aufzeigen von Entwicklungsschritten, Zielvereinbarungen) eingesetzt wird. (Alvero, Bucklin & Austin, 2021).) Ausserdem soll Feedback möglichst konstant, spezifisch und zeitnah auf das Verhalten erfolgen.

Allen voran muss das 360-Grad-Feedback-Verfahren von allen Beteiligten akzeptiert sein. Ansonsten verkommt es zur Alibi-Übung oder wird gar durch Manipulationen oder Sabotageakte unbrauchbar gemacht. So müssen nicht nur die Ziele, sondern auch die Art und Weise, wie das 360-Grad-Feedback durchgeführt und ausgewertet wird, transparent und nachvollziehbar sein. Die Gewährleistung von absoluter Anonymität der Befragten und Feedbackgeber sowie das Wissen um die Vertraulichkeit der Daten helfen dabei, Vertrauen in die Befragung zu fördern. Dies erhöht wiederum die Bereitschaft zu ehrlichen, differenzierten Antworten und mindert die Furcht vor Repressalien. Es wird auch allgemein angenommen, dass Online-Befragungen weniger nachverfolgbar sind als Offline-Befragungen.

Ganz wichtig ist, dass die abgefragten Fähigkeiten und Kompetenzen immer einen direkten Zusammenhang mit dem Unternehmen und der Position der befragten Person haben. Damit wird der direkte Nutzen des Feedbacks sichtbar. Bei einer positiven Veränderung stellt sich zudem ein Erfolgserlebnis ein und die Motivation, die neue Verhaltensweise beizubehalten, verstärkt sich. Wenn konstruktive Kritik auf allen Ebenen der Zusammenarbeit gelebt und 360-Grad-Feedbacks als Teil der Unternehmenskultur integriert werden, kann sich daraus eine Kultur der kontinuierlichen Verbesserung entwickeln.

Fazit

Die 360-Grad-Leistungsbeurteilung als Methode zur Verbesserung der Effektivität scheint auf den ersten Blick der klassischen Top-Down-Beurteilung durch den Chef oder die Chefin überlegen zu sein. Der Einbezug der verschiedenen Blickwinkel bei der Beurteilung, die Anonymität der Beteiligten sowie der direkte Praxisbezug der untersuchten Kompetenzen tragen zu einer hohen Objektivität und Akzeptanz der Resultate bei. Allerdings sind absolute Aussagen über die Wirksamkeit von 360-Grad-Feedbacks schwierig, weil es eine grosse Vielfalt an Varianten, Methoden und Einsatzzwecken, Art der Durchführung, etc. gibt und es an vergleichbaren Studien mangelt.

Kurz gesagt: Die 360-Grad-Leistungsbeurteilung eignet sich durchaus als Instrument einer ehrlichen und konstruktiven Feedbackkultur, die zu konkreten Verbesserungen führen kann. Zu einer solchen Kultur muss aber allen voran das Top-Management bereit sein. Sofern in einer Organisation bereits ein offenes und vertrauensvolles Arbeitsumfeld herrscht, stellt sich zurecht die Frage, ob ein anonymes und institutionalisiertes 360-Grad-Feedback notwendig ist.

Quellen und weiterführende Informationen

Alvero, A. M., Bucklin, B. & Austin, A. (2001). An Objective Review of the Effectiveness and Essential Characteristics of Performance Feedback in Organizational Settings (1985-1998). Journal of Organizational Behavior Management 21(1):3-29.

Blum, A., Zaugg, R.J. (2007). 360-Grad-Feedback. In Thom, N., Zaugg, R.J. (Hrsg.), Moderne Personalentwicklung. Wiesbaden: Gabler.

Gaus et al. (2019). Feedback Tools. Welche Chancen und Risiken birgt die Verwendung von Feedback Tools für Mitarbeitende in Unternehmen?


Handelsblatt (2017). In dieser Firma bewertet jeder jeden.

Herzog, C. (2020). Was ist 360-Grad-Feedback? Eine Definition. umantis.

Herzog, J. (2020). So stärken Sie die Feedbackkultur in Ihrem Unternehmen. umantis.

Institut für Management - Innnovation Dr. Waldemar Pelz. (2023). 360-Grad-Feedback: Vorteile, Nachteile und Risiken.

Jonasson, M., Chlopszik, A, Lippman, E. & Beutter, C. (2019). Gestaltung der Beziehung zu einzelnen Mitarbeitenden. In Lippman, E., Pfister, A. & Jörg, U. (Hrsg.), Handbuch Angewandte Psychologie für Führungskräfte, Bd. I Führungskompetenzen und Führungswissen (S. 376-388). Berlin: Springer.

Scherm, M. Sarges, W. (2019). 360-Grad-Feedback. (2. überarbeitete Aufl.).Göttingen: HIfegrefe.

Swissinterim. Chancen und Risiken von 360-Grad-Feedback. Abgerufen am 25.01.2024

Werkmann-Karcher, B. (2019). Mitarbeitende beurteilen. In Lippman, E., Pfister, A. & Jörg, U. (Hrsg.), Handbuch Angewandte Psychologie für Führungskräfte, Bd. II Führungskompetenzen und Führungswissen (S. 564-586). Berlin: Springer.

Autor/in
Irene-Willi

Irene Willi Kägi

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