Gewohnheit macht Lügner
Annette Rath
Unehrlichkeit, Täuschung und Betrug gehören zu unserem sozialen Leben – einerlei ob man in die Politik, die Finanzwelt oder auf persönliche Beziehungen blickt. Das zeigt auch die derzeitige Debatte zum Thema Fake-News.
Die Angewohnheit zu lügen, wenn es dem eigenen Vorteil dient, wird mit der Zeit immer stärker. Im menschlichen Gehirn gibt es nämlich eine Tendenz, dass wiederholtes Lügen von immer weniger physiologischen Bremsen gehemmt wird. Dies zeigten der Psychologe Neil Garrett und seine Kollegen Stephanie C. Lazzaro, Dan Ariely und Tali Sharot in einem in Nature Neuroscience veröffentlichten Aufsatz.
Um herauszufinden, was im Gehirn bei anhaltendem Lügen abläuft, liessen die Forscher 80 Versuchsteilnehmer die Anzahl von Münzen in einem Glas einschätzen. Dabei bestanden im ersten Durchgang keine Anreize, die Münzmenge zu über- oder unterschätzen, in den folgenden jedoch schon.
Immer dreistere Lügen
Mittels funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) konnten die Psychologen nachweisen, dass bei eigennützigem Lügen die Reaktion der Amygdala, die u. a. für Angst und andere negative Gefühle zuständig ist, mit der Zeit schwächer wurde. Und je schwächer sie wurde, desto ungenierter logen die Probanden.
Laut den Wissenschaftlern erklären die Ergebnisse, warum z. B. Wirtschaftsbetrüger beim Täuschen erstmal "klein anfangen" und sich mit der Zeit an immer grössere Unwahrheiten heranwagen. Weiter vermuten sie, dass es solche Gewöhnungseffekte in der Amygdala auch bei Gewalt- oder Risikobereitschaft geben kann. Aber wie so oft greift auch diese hirnphysiologische Erklärung zu kurz. Eine andere Erklärung besteht nämlich darin, dass Menschen mit der Zeit einfach lernen, was sie zum Erfolg führt, und dieses Verhalten dann verstärkt ausführen.
Wie auch immer: Lügen ist nichts anderes als eine unfaire Täuschung des Gegenübers. Deshalb lehnen wir sie moralisch ab und erheben Nicht-Lügen zur Norm. Doch zugleich ist die Fähigkeit, absichtlich etwas anderes als die Wahrheit zu sagen, nicht automatisch und aus jeder Perspektive etwas Schlechtes. Sie hat sich z. B. in der Evolution als vorteilhaft erwiesen. Sie kann helfen, Kriege, Märkte, Herzen oder eben auch Wahlen zu gewinnen. Und wie frühere Forschung von Ariely (2012) zeigt: Fast jeder Mensch bedient sich täglich kleinerer Unwahrheiten, um etwa zu vermeiden, jemanden vor den Kopf zu stossen.
Weiterführende Informationen und Quellen:
Garrett, N., Lazzaro, S. C., Ariely, D. & Sharot, T. (2016). The brain adapts to dishonesty. Nature Neuroscience 19, 1727-1732.
Ariely, D. (2012). The ( Honest) Truth about Dishonesty.