Richterhammer und Buch Richterhammer und Buch
Das SchKG ist auch auf die Kantone anwendbar. (Symbolbild)

Das Bundesgesetz über die Schuldbetreibung gegen Gemeinden und andere Körperschaften des kantonalen öffentlichen Rechts vom 4. Dezember 1947 (SR 282.11) hält in Art. 1 Absatz 2 ausdrücklich fest: «Auf die Kantone findet das vorliegende Gesetz keine Anwendung».

Auf den ersten Blick erscheint das überraschend: Ein Bundesgesetz, das die Regeln des SchKG so modifiziert, dass sie auf die speziellen Aufgaben und Eigenheiten von körperschaftlich organisierten Gemeinwesen, wie z.B. einen Kanton passen, wird von der Anwendung auf die Kantone ausdrücklich ausgenommen.

In diesem Beitrag werden die Hintergründe der Bestimmung beleuchtet und untersucht, welche Regeln für die Zwangsvollstreckung gegen Kantone gelten. Beispielhaft verarbeitet wird dafür das historische Beispiel des Kantons Neuenburg und seiner Kantonalbank.

Die aktuelle Rechtslage

Art. 30 Absatz 1 SchKG bestimmt: «Dieses Gesetz gilt nicht für die Zwangsvollstreckung gegen Kantone, Bezirke und Gemeinden, soweit darüber besondere eidgenössische oder kantonale Vorschriften bestehen.» (SR 281.1.). Das SchKG ist demnach auch auf die Kantone anwendbar. Seine Anwendung wird nur dann und nur insoweit ausgeschlossen, als besondere Vorschriften des Bundes oder der Kantone erlassen worden sind.

Die besondere Bundesgesetzgebung über die Schuldbetreibung gegen Gemeinden und andere Körperschaften des kantonalen öffentlichen Rechts ist aufgrund der ausdrücklichen Vorschrift von Art. 1 Absatz 2 des Gesetzes auf die Kantone nicht anwendbar. Ein anderes Bundesgesetz, das die Zwangsvollstreckung gegen Kantone regelt, gibt es nicht. Das Bundesrecht überlässt es folglich den Kantonen zu bestimmen, wie eine Zwangsvollstreckung gegen den jeweiligen Kanton durchgesetzt werden kann und wie ein Zwangsvollstreckungsverfahren abzulaufen hat. Verzichten die Kantone auf eine eigene Regelung, dann gilt das SchKG.

Soweit aufgrund einer kurzen Recherche in den kantonalen EG zum SchKG festzustellen ist, hat kein Kanton eine besondere Gesetzgebung für die Zwangsvollstreckung gegen den Kanton geschaffen. In Graubünden, Solothurn und St. Gallen finden sich nur besondere Zuständigkeitsvorschriften für die Schuldbetreibung gegen den Kanton. Diese Feststellung entspricht weitgehend den gängigen Kommentaren zum SchKG. Eine vertiefte systematische Abklärung sprengt allerdings den Rahmen dieses Beitrags. Es darf allerdings davon ausgegangen werden, dass kein Kanton eine Gesetzgebung für die Zwangsvollstreckung gegen den Kanton erlassen hat.

Das ist problematisch, denn die Regelung von Art. 30 Absatz 1 SchKG erschien dem Bundesrat ungenügend. Das SchKG trägt «…den Besonderheiten, die sich aus den öffentlichrechtlichen Funktionen der Kantone ergeben, nicht Rechnung…». stellte der Bundesrat in seiner «Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung zum Entwurf eines Bundesgesetzes über die Zwangsvollstreckung und die Gläubigergemeinschaft bei Gemeinden und andern Schuldnern des kantonalen öffentlichen Rechts» vom 12. Juni 1939 fest (BBl 1939 I 1, Seite 8). Tatsächlich fehlen im SchKG Regeln darüber, wie ein Sanierungsverfahren gegenüber einem zahlungsunfähigen Kanton abzulaufen hat, welche Vermögenswerte eines Kantons verwertet werden dürfen oder wie die Interessen der von finanziellen Problemen eines Kantons betroffenen Gläubigern gewahrt werden können. Das Bundesgesetz über die Schuldbetreibung gegen Gemeinden und andere Körperschaften des kantonalen öffentlichen Rechts vom 4. Dezember 1947 (SR 282.11), sieht solche Regeln vor, ist aber auf die Kantone explizit nicht anwendbar.

Die besonderen Regeln über die Zwangsverwertung von Vermögen des Bundes und der Kantone

Das Bundesgericht hat eine allgemeine Regel über die Zwangsverwertung von Vermögen öffentlich-rechtlicher Körperschaften hergeleitet: Mit Urteil vom 3. November 1977 entschied das Bundesgericht, Vermögen des Staates, das unmittelbar der Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe dient, sei nicht verwertbar und daher im Rahmen einer Zwangsvollstreckung auch nicht pfändbar (BGE 103 II 227, Regeste Ziffer 2 sowie E 4, Seite 234/235).

Anlass für diesen Entscheid bot ein Streit um die Eintragung eines Bauhandwerkerpfandrechts an einem Grundstück, das unmittelbar der Erfüllung öffentlicher Aufgaben des Bundes diente; es handelte sich um ein technisches Werk der damaligen PTT auf dem Chasseral.

Das Bundesgericht schloss in seinem Entscheid die Möglichkeit der Eintragung eines Bauhandwerkerpfandrechts aus, weil eine Zwangsverwertung des Grundstückes ausgeschlossen sei (BGE 103 II 227, Seite 235, letzter Absatz). Es verwies dabei auch auf einen nicht veröffentlichen Entscheid über die Eintragung eines Bauhandwerkerpfandrechts an einem Nationalstrassen-Grundstück des Kantons Tessin. Folgt man den Darlegungen des Bundesgerichts handelt es sich dabei um einen Entscheid der II. Zivilabteilung vom 5. September 1977 i.S. Cebeto S.A. contro Ghella S.A. e Stato del Cantone Ticino (vgl. BGE 103 II 235, Seite 238).

Die Überlegungen des Bundesgerichts gelten demnach nicht nur für die Zwangsverwertung von Vermögen des Bundes, sondern auch Vermögen der Kantone. Auch das unmittelbar der Erfüllung öffentlicher Aufgaben dienende Vermögen eines Kantons ist nach den Überlegungen des Bundesgerichts nicht verwertbar und kann folglich nicht in eine Zwangsvollstreckung gegen einen Kanton einbezogen werden. Diesen Rechtsgrundsatz leitete das Bundesgericht nicht aus dem SchKG ab, sondern aus den allgemeinen Regeln des öffentlichen Verwaltungsrechts. Der Hinweis auf die Gesetzgebung über die Zwangsvollstreckung gegen Gemeinden und andere öffentlich-rechtliche Körperschaften des kantonalen Rechts diente dem Bundesgericht lediglich zur Bekräftigung seiner Überlegungen.

Die Entwicklung der Zwangsvollstreckung gegen Kantone

Es drängt sich die Frage auf, weshalb es keine den Aufgaben der Kantone angepassten Regeln über die Zwangsvollstreckung gegen einen Kanton gibt:

Mit der «Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung zum Entwurf eines Bundesgesetzes über die Zwangsvollstreckung und die Gläubigergemeinschaft bei Gemeinden und andern Schuldnern des kantonalen öffentlichen Rechts.» vom 12. Juni 1939 (BBl 1939 I 1) unterbreitete der Bundesrat dem Parlament einen ersten Vorschlag zur Regelung der Schuldbetreibung gegen Gemeinden, Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des kantonalen öffentlichen Rechts. Der Entwurf sah also schon dem Titel nach einen weit grösseren Anwendungsbereich vor, als das heute geltende Gesetz. Aber schon diese erste Vorlage sah vor, die Kantone vom Anwendungsbereich des Gesetzes auszunehmen. Das ist aus Art. 1 des Entwurfs ersichtlich, der lautete:

Art. 1

1 Die Zwangsvollstreckung gegen politische Bezirke und Kreise, gegen Gemeinden und andere Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des kantonalen öffentlichen Rechts, mit Ausnahme der Kantone selbst, der Versicherungsanstalten und der unter das Bundesgesetz vom 8. November 1934 über die Banken und Sparkassen fallenden Banken und Sparkassen des kantonalen öffentlichen Rechts mit selbständiger Persönlichkeit, wird auf dem Wege der Schuldbetreibung durchgeführt.

2 Die Bestimmungen des Bundesgesetzes vom 11. April 1889 über Schuldbetreibung und Konkurs gelten mit den nachfolgenden Einschränkungen. (…)

 

(BBl 1939 I 1, Seite 26). Die Unterstreichungen finden sich nicht im Originaltext, sondern wurden für diesen Beitrag angebracht.

Die Botschaft äusserte sich zur Entscheidung, die Kantone auszunehmen, sehr ausführlich: «Dass die Zuständigkeit des Bundes zur Regelung der Zwangsvollstreckung auch gegenüber Gemeinden und andern Körperschaften des kantonalen öffentlichen Rechts gegeben ist, dürfte kaum einem Zweifel unterliegen. Denn gemäss Art. 64 BV steht dem Bund ganz allgemein das Recht der Gesetzgebung über das Betreibungs- und Konkursrecht zu, ohne dass für Schuldner des kantonalen öffentlichen Rechts eine Ausnahme oder ein Vorbehalt gemacht worden wäre. Sache des Bundes ist daher die Regelung der Zwangsvollstreckung jeglicher Forderung auf Geld, somit auch dann, wenn sie sich gegen Gemeinden und andere Körperschaften des kantonalen öffentlichen Rechts richtet.» (BBl 1939 I 1, Seite 6). In diesem Zitat fällt auf: Die Kantone sind mit diesen Erläuterungen der Rechtslage genauso gemeint, wie Gemeinden, denn sie sind Körperschaften des kantonalen öffentlichen Rechts. Dennoch werden sie nicht ausdrücklich genannt. Der mögliche Grund wird ersichtlich, wenn man sich die weitere Beschreibung in der Botschaft zur Vorgeschichte des ersten Entwurfs ansieht:

«Zweifelhaft erschien es hingegen, ob auch die Zwangsvollstreckung gegen einen Kanton und ihm unterstehende Körperschaften, Stiftungen und Anstalten des öffentlichen Rechts, insbesondere politische Bezirke und Kreise, im Spezialgesetz zu regeln sei. Damit würde jedenfalls eine Lücke in der geltenden Gesetzgebung ausgefüllt. (…) Der erste Entwurf hatte daher in einer Variante auch die Regelung dieser Fragen vorgesehen, die von der Gläubigerseite sehr begrüsst worden ist. Die Kommission hat aber die Regelung der Zwangsvollstreckung gegen den Kanton selbst als politisch untragbar gestrichen. Wir haben uns dieser Lösung angeschlossen aus der Überlegung, dass die Unzulänglichkeit der geltenden Regelung erst bei der Insolvenz eines Kantons in Erscheinung tritt, dass aber in diesem Falle der Bund ohnehin genötigt wäre, durch besondere gesetzgeberische Massnahmen einzugreifen.» (BBl 1939 I 1, Seite 8). Auch in diesem Falle finden sich die Unterstreichungen nicht im Originaltext, sondern wurden für diese Beitrag gesetzt.

Eine erste verwaltungsinterne Variante des Entwurfs zum vom Bundesrat vorgeschlagenen Gesetz hatte vorgesehen, es auch für die Kantone als anwendbar zu erklären. Das wäre sachlich gerechtfertigt gewesen, weil dadurch eine Lücke in der bestehenden Gesetzgebung geschlossen worden wäre. Der Vorschlag wurde jedoch als politisch untragbar angesehen und deshalb hielt schon der dem Parlament übermittelte erste Entwurf ausdrücklich fest, das Gesetz sei auf die Kantone nicht anwendbar. Grundlage dieser Überlegungen war die Annahme, im Falle der Insolvenz eines Kantons müsse der Bund ohnehin mit besonderen gesetzgeberischen Massnahmen eingreifen.

Der erste dem Parlament vorgeschlagene Entwurf stiess auf erheblichen Widerstand und wurde deshalb neu gefasst (vgl. Nachtragsbotschaft BBl 1945 I 1). Das am 4. Dezember 1947 beschlossene Gesetz über die Schuldbetreibung gegen «Gemeinden und andere Körperschaften des kantonalen Rechts» war lediglich noch auf Gemeinden und Körperschaften anwendbar. Die noch im Entwurf des Bundesrates ausdrücklich genannten Anstalten und Stiftungen (vgl. BBl 1939 I 1, Seite 26, Art. 1 Absatz 1 des Entwurfs) fehlen in der Aufzählung des schliesslich beschlossenen und aktuell geltenden Gesetzes. Geblieben aber ist die ausdrückliche, schon im ersten Entwurf aufgenommene Bestimmung, das Gesetz sei auf die Kantone nicht anwendbar.

Der Anwendungsfall: Der Kanton Neuenburg in finanziellen Problemen

Die Problematik von zahlungsunfähigen Kantonen war beim Verfassen des Entwurfs von 1939 bekannt und aktuell: Mit Datum vom 13. September 1935 nämlich hatte der Bundesrat dem Parlament die «Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über eine Hilfe des Bundes an den Kanton Neuenburg und seine Kantonalbank.» unterbreitet (BBl 1935 II 325). Die Ausgangslage seines Antrags an National- und Ständerat beschrieb der Bundesrat wie folgt:

«Die Regierung des Kantons Neuenburg hat dem Bundesrat seit dem Mai 1932 verschiedene Hilfebegehren zukommen lassen, zu denen sich schliesslich noch die Notwendigkeit einer Reorganisation der Neuenburger Kantonalbank unter Mithilfe des Bundes gesellt hat.» (BBl 1935 II 325, Seite 325).

Der Kanton Neuenburg war in eine finanzielle Notlage geraten, die er nach Einschätzung der kantonalen Behörden aus eigener Kraft nicht mehr zu bewältigen imstande war. Auch die Kantonalbank des Kantons war in finanzielle Schieflage geraten. Der Bundesrat beantragte deshalb dem Parlament, dem Kanton Neuenburg mit Bundesmitteln beizustehen und sich an der Rettung der Neuenburger Kantonalbank finanziell zu beteiligen.

Die finanziellen Probleme des Kantons und der Kantonalbank waren nicht nur vorübergehender Natur. Betroffen waren auch die neuenburger Gemeinden La Chaux-de-Fonds und Le Locle. Der Bundesrat beschrieb die Probleme in seiner Botschaft sehr ausführlich: «Schon seit mehreren Jahren werden die Ausgaben dieser Gemeinden und des Kantons Neuenburg kaum zu drei Vierteln durch Einnahmen gedeckt, und ihre Vermögenslage wird zusehends schlechter.» BBl 1935 II 325, Seite 329). Der Bund hatte bereits auf diese Situation reagiert und Darlehen gewährt: «Auch in der gegenwärtigen Krisis sind die neuenburgischen Gemeinden vom Bund wiederholt an ihren Kanton verwiesen worden. Allein, es hat sich gezeigt, dass es diesem auch nicht möglich war, die Mittel bereitzustellen, die für eine Bemeisterung der Lage nötig waren, so dass der Bund einspringen musste. (…) Was die Form des Einschreitens anbelangt, so hat man sich — wie das in einem Bundesstaat naheliegend ist — nur an den Kanton gehalten und überliess ihm die Darlehen zuhanden der Gemeinden.» (BBl 1935 II 325, Seite 330).

Wie dramatisch die Situation war, zeigte sich daran, dass der Staatsrat des Kantons Neuenburg sich am 31. Mai 1932, dann wieder am 1. Dezember 1933, am 12. März 1934 und am 15. Mai 1934 mit offiziellen Hilfeersuchen an den Bundesrat wandte (BBl 1935 325, Seiten 330/331). Am 12. April 1934 nahm auch die Gemeinde La Chaux-de-Fonds direkt mit dem Bundesrat Kontakt auf und machte ihn «…telegraphisch darauf aufmerksam, dass die Gemeinde am 15. April 420,000 Franken zu zahlen habe, die noch nicht bereitstehen.» (BBl 1935 II 325, Seite 332). So ging es weiter: «Mit neuen Eingaben vom 21. und 29. Juni kam der Staatsrat auf den Bundesratsbeschluss vom 9. April zurück und wünschte dringend eine Milderung der Krisenlasten durch Erhöhung der Bundesbeiträge. Die Lage hatte sich so weit verschlechtert, dass die Gemeinden befürchteten, ihren Verpflichtungen höchstens noch bis Mitte Juli nachkommen zu können. Der Kanton musste für die bis Ende Juli zu machenden Zahlungen die gesamten Steuererträgnisse heranziehen. Ausserdem war die Lage der Kantonalbank inzwischen sehr kritisch geworden.» (BBl 1935 II 325, Seite 332). Der Kanton Neuenburg haftete für die Verbindlichkeiten seiner Kantonalbank (BBl 1935 II 325, Seite 339).

Die Verschärfung der Situation durch die finanziellen Probleme der Neuenburger Kantonalbank:

Die prekäre finanzielle Situation des Kantons Neuenburg und seiner Gemeinden wurde durch die Probleme der Neuenburger Kantonalbank noch verschärft. Der Bundesrat beschrieb in seiner «Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über eine Hilfe des Bundes an den Kanton Neuenburg und seine Kantonalbank.» (BBl 1935 II 325) die finanzielle Situation der Kantonalbank, Ihre Ursache und ihre Auswirkungen auf die Kantonsfinanzen ebenfalls sehr ausführlich:

«Die Kantonalbank von Neuenburg wurde im Jahre 1882 gegründet und mit einem Dotationskapital ausgestattet, das heute mit 40 Millionen Franken nur noch hinter demjenigen der kantonalen Kreditinstitute in Zürich und Waadt zurücksteht. Das ihr zugewiesene Tätigkeitsgebiet fiel, im Gegensatz zu demjenigen der meisten anderen Kantonalbanken, von Anfang an etwas breit aus.» (BBl 1935 II 325. Seite 336). Bei der Neuenburger Kantonalbank handelte es sich also dem Dotationskapital nach um die drittgrösste Kantonalbank der Schweiz.

Die Ursache ihrer finanziellen Probleme gingen bereits auf das Jahr 1920 zurück: «Als 1920 die Caisse d'Epargne in Schwierigkeiten geriet, wurde sie der Kantonalbank einverleibt zu Bedingungen, die eine Immobilisierung von 20 Millionen Franken zur Folge hatte. Bis 1930 konnten davon etwa 9 Millionen abgeschrieben werden, die inzwischen aber wieder zu mehr als der Hälfte neu aufgelaufen sind.

Das Handelsbankgeschäft hat zeitweise einen sehr beträchtlichen Umfang angenommen, wobei sich die Bank nicht nur auf das Inland beschränkte. Zeitweise spielten auch ungedeckte Kredite, später erhebliche Überschreitungen von gedeckten Krediten eine Rolle. 1930 ergab sich die Notwendigkeit einer Reorganisation, wobei für 17 Millionen Pranken Verluste abgeschrieben werden mussten, die zum Teil auch auf Oststaaten entfielen. Statt dass man das Dotationskapital um diesen Betrag abgeschrieben hätte, wurde dieses unverändert gelassen. Die 17 Millionen wurden dem Staat belastet und weiterhin unter den Aktiven ausgewiesen. Die Bank erhielt darauf eine Verzinsung von 3%, während sie für das Dotationskapital stets mehr als 4% zahlen musste. Man hatte sich damals vorgestellt, dass es möglich sein sollte, dieses fiktive Aktivum mit 70% des Reinertrages der Bank allmählich zu tilgen. Die restlichen 30% des Reingewinnes sollten dem Reservefonds zugewiesen werden. Es stellte sich aber bald heraus, dass diese Hoffnung trügerisch war. Bei einem Dotationskapital von 40 Millionen und non-valeurs für 28 Millionen {17 Millionen Abschreibungen und 11 Millionen Saldo der Caisse d'Epargne) war die finanzielle Grundlage zu schmal geworden. Von 1930 auf 1931 sind der Bank auch noch für 30 Millionen Franken fremde Gelder entzogen worden, die nie mehr zurückgekehrt sind. In den folgenden Jahren kam noch die Krisis in der Uhrenindustrie dazu, so dass von den 17 Millionen Verlusten nichts abgeschrieben werden konnte. Auch die Reserven konnten in den Jahren seit der Reorganisation mit keinem Franken geäufnet werden. Die durch Dekret vom 20. Februar 1931 durchgeführte Sanierung hat der Neuenburger Kantonalbank also kein inneres Erstarken erlaubt. Die Lage hat sich im Gegenteil noch zugespitzt, …» (BBl 1935 II 325, Seite 336/337).

Die Krise der Bank war also nicht nur auf die Wirtschaftskrise im Kanton zurückzuführen, sondern auch auf eine risikoreiche Geschäftspolitik und die Übernahme der Schulden einer maroden Bank. Um dies zu verdecken, griffen die Verantwortlichen der Bank zu aus heutiger Sicht fraglichen buchhalterischen Tricksereien, an denen die kantonalen Behörden mitwirkten. Allerdings gab es auch einen Zusammenhang zwischen den finanziellen Problemen der Bank und der finanziellen Lage des Kantons und seiner Gemeinden, wie der Bundesrat in seiner Botschaft darlegte: «Staat und Gemeinden verschuldeten sich immer mehr gegenüber der Kantonalbank und konnten sich keine Kredite mehr zur Ablösung dieser Vorschüsse beschaffen. Auf Ende Juni 1935 wies das Bilanzkonto «Comptes-courants Etat et communes» einen Saldo von 51,9 Millionen Franken auf. 34 Millionen davon entfielen auf fiktive Aktiven (Caisse d'Epargne und Verluste von 1930/31) und 17,9 Millionen auf laufende Vorschüsse an Staat und Gemeinden.» (BBl 1935 II 325, Seite 337).

Die Probleme hatten sich herumgesprochen und das Vertrauen des Publikums in die Bank war beschädigt. Der Bank-Run hatte begonnen und sich mehr und mehr zugespitzt, wie der Bundesrat in seiner Botschaft beschrieb: «Diese Umstände haben dazu geführt, dass die Neuenburger Kantonalbank nach den 1930/31 verlorenen 30 Millionen Franken fremder Mittel bis Ende Juni 1935 noch einmal Publikumsgelder im Umfange von 55 Millionen Franken einbüsste.» (BBl 1935 II 325, Seite 337).

Die Bankenkommission hatte aufgrund des erst 1934 beschlossenen Bankengesetzes schon aus zeitlichen Gründen nicht eingreifen können. Aber auch rechtliche Gründe sorgten dafür, dass der Bankenkommission in wichtigen Bereichen die Einflussmöglichkeiten fehlten: Art. 8 Absatz 4 (Innere Organisation), Art. 5 Absatz 2 (Schaffung eines Reservefonds), Art. 18 Absatz 2 (Revision), Art. 38 Absatz 1 (Verantwortlichkeit) des am 8. November 1934 beschlossenen Bankengesetzes in der Fassung von 1934 waren auf Kantonalbanken nicht anwendbar (BBl 1934 II 601). Dennoch wurde die Bankenkommission tätig, wie der Bundesrat in seiner Botschaft beschrieb: «Die Bankenkommission hatte schon am 10. Mai eine Expertenkommission eingesetzt, die ihr Gutachten am 28. Juni erstattete und zu folgenden Schlüssen kam. Ein längeres Mitschleppen der vom Staat geschuldeten 17 Millionen Franken von 1930 und der Ausfall bei der Caisse d'Epargne im Umfang von 16 1/2 Millionen ist nicht angängig. Diese Summen im Totalbetrage von 33 1/2 Millionen sind vom Dotationskapital von 40 Millionen abzuschreiben. Eine Neubewertung der Aktiven vom Standpunkt der Aufstellung einer Betriebsbilanz aus hat ergeben, dass für 22 Millionen neue Verluste zu erwarten sind, so dass nach völliger Abschreibung des Dotationskapitals ein Verlustsaldo von 15 1/2 Millionen zu decken bleibt. Im übrigen hoben die Experten die Wünschbarkeit hervor, das Institut ohne einen Fälligkeitsaufschub zu retten, und erachteten als einzige Möglichkeit dafür, entsprechende Kredite durch den Bund zu gewähren. (…)

Nationalbank, Bankenkommission und der Kantonalbankenverband waren mit dem Finanz- und Zolldepartement der Auffassung, dass alles daran gesetzt werden müsse, der Schwierigkeiten ohne Zuhilfenahme des im Volke noch wenig bekannten Fälligkeitsaufschubes Herr zu werden, weil eine solche Massnahme bei einem mit Staatsgarantie versehenen Bankinstitut besonders dann, wenn dieses so sehr im Mittelpunkt der Staats- und Privatwirtschaft steht wie das neuenburgische, sicher weitergehende Wirkungen zeitigen müsste als bei einer Privatbank. Ausserdem wäre zu befürchten gewesen, dass sich mit der Gewährung eines Fälligkeitsaufschubes ein Misstrauen gegen die Kantonalbanken im allgemeinen eingestellt hätte, das nicht ohne schwerste Rückwirkungen auf den gesamten Hypothekarkredit und unter Umständen auch auf den Schweizerfranken geblieben wäre.» (BBl 1935 II 325, Seiten 338/339)

Die Bank musste nach einhelliger Auffassung der Experten ohne Fälligkeitsaufschub rekapitalisiert werden, um grössere Probleme für andere Kantonalbanken und für den schweizerischen Finanzmarkt zu verhindern.

Die Hilfen des Bundes:

Zum Zeitpunkt, als der Bundesrat der Bundesversammlung die Hilfen beantragte, waren schon erhebliche Hilfsbeiträge ausbezahlt worden» Zugunsten der Gemeinden hatte der Bundesrat dem Kanton Neuenburg im Dezember 1932 ein Darlehen von 8 Mio. Franken mit einer Laufzeit von 12 Monaten zu einem Zinssatz von 2 % p.a. gewährt, im Juli 1934 wurde ein weiteres Darlehen von 4 Mio. Franken zum gleichen Zinssatz ausgesetzt. Im Mail 1934 hatte die Nationalbank dem Kanton 8 Mio. Franken zur Ablösung von Darlehen der Kantonalbank an die Gemeinden zur Verfügung gestellt, das der Bund übernehmen musste (BBl 1935 II 235, Seite 331 f).

Der Bundesrat schlug der Bundesversammlung in seiner Botschaft vor, dem Kanton Neuenburg zur Ablösung kurzfristiger Bundesvorschüsse ein Darlehen bis maximal 24 Mio. Franken für die Dauer von 15 Jahren zu gewähren. Es war zu 2 % p.a. zu verzinsen und ab 1. Januar 1939 durch jährliche Zahlungen zu tilgen. Davon waren lediglich 4 Millionen Franken noch nicht ausbezahlt worden, wie der deutschsprachige Berichterstatter anlässlich der Beratungen im Nationalrat angab (Protokoll 7. Sitzung vom 24.09.1935, Seite 199). Auf Anleihen der öffentlichen Hand waren im Jahr 1933 von Anleihensgläubigern Nettorenditen von 4,0 bis 4,5 % erzielt worden, wie der Botschaft des Bundesrates zu entnehmen ist (BBl 1935 II 325, Seite 331); der Zinsfuss von 2 % entspricht weniger als der Hälfte davon.

Darüber hinaus wurde dem Kanton Neuenburg eine Kreditlimite des Bundes von 15 Mio. Franken eingeräumt, die zur Abdeckung von Verlusten der Kantonalbank einzusetzen waren. Die Limite konnte bis längstens am 30. September 1950 genutzt werden. Die gestützt darauf bezogenen Vorschüsse waren nicht zu verzinsen (Protokoll 7. Sitzung vom 24.09.1935, Seite 200).

Überdies wurde der Bundesrat ermächtigt, dem Kanton Neuenburg ein Darlehen von höchstens 6 Mio. Franken zusammen mit dem Kantonalbankenverband und weiterer Geldgeber zur Verfügung zu stellen, so dass für die Rekapitalisierung der Bank in Form von Dotationskapital insgesamt 15 Mio. Franken zur Verfügung standen (BBl 1935 II 325, Art. 1, 2 und 3, Entwurf Bundesbeschluss Seite 343/344). Den Räten wurde eine Vereinbarung zwischen dem Bund, dem Verband schweizerischer Kantonalbanken und weiterer Geldgeber und Versicherungsgesellschaften vorgelegt (BBl 1935 II 325, Beilage 3, Seite 347). Gemäss Art. 7 dieser Vereinbarung hatte der Kanton als Kapitalgeber das Dotationskapital von 40 Mio Franken in erheblichem Masse abzuschreiben. Das Gesetz über die Neuenburger Kantonalbank war gemäss Art. 8 zu revidieren und die Bank zu reorganisieren, der Verwaltungsrat war nach Art. 9 neu zu bestellen, wobei drei von sieben Mitgliedern auf gemeinsamen Vorschlag der Darlehensgeber hin zu ernennen waren.

Im Gegenzug musste sich der Kanton Neuenburg verpflichten, dem Bundesrat vollständigen Einblick in die Entwicklung der Staatsfinanzen des Kantons und seiner Gemeinden zu geben. In den Beratungen des Nationalrates präzisierte der deutschsprachige Berichterstatter die Erwartungen des Parlaments an den Kanton Neuenburg und relativierte gleichzeitig: «lch möchte in diesem Zusammenhange neuerdings betonen, dass die Formel über die Garantie seinerzeit gegenüber dem Kanton Uri bedeutend strenger und genauer war. In unserer Vorlage handelt es sich mehr nur um einen Appell an die zuständigen Behörden, das finanzielle Gleichgewicht wieder herzustellen. Sie haben in der allgemeinen Eintretensdebatte gehört, dass das voraussichtlich ohne eine Revision der Steuergesetze und Erhebung einer Erbschaftssteuer und weitere Ersparnisse kaum gelingen dürfte. Deshalb wollen wir mit der vorgeschlagenen Fassung den Staatsrat auch verpflichten, innert einem Jahre dem Bundesrate über die getroffenen Massnahmen Bericht zu erstatten und Einblick in den Finanzhaushalt zu gewähren.» (Protokoll 7. Sitzung vom 24.09.1935, Seite 208).

Als Sicherheit für den Bund dienten die dem Kanton zustehenden Anteile an Bundeseinnahmen (BBl 1935 II 325, Seite 344, Art. 4 Vorschlag Bundesbeschluss, Seite 344).

Die vom Bundesrat vorgeschlagenen Hilfskredite wurden mit Beschluss des Nationalrates vom 24. September 1935 mit wenigen Änderungen gegenüber der Vorlage des Bundesrates angenommen (Protokoll 7. Sitzung vom 24.09.1935, Seite 208). Schon zwei Tage später, am 26. September 1935 stimmte auch der Ständerat den Beschlüssen des Nationalrates zu (Protokoll 9. Sitzung vom 26.09.1935, Seite 92).

Das Fazit

Die schweizerische Gesetzgebung kennt für die Zwangsvollstreckung gegenüber Kantonen keine Regeln, die auf den Eintritt der Zahlungsunfähigkeit eines Kantons passen würden. Klar ist lediglich, dass die Verwertung von Vermögen eines Kantons, das unmittelbar öffentlichen Zwecken dient, nicht zulässig ist.

Klar ist allerdings auch, dass die Zahlungsunfähigkeit eines Kantons keineswegs eine nur theoretische Möglichkeit ist, für die sich vorzubereiten keinerlei Anlass besteht; die finanziellen Probleme des Kantons Neuenburg, seiner Gemeinden und seiner Kantonalbank bezeugen das. Die Neuenburger Kantonalbank hätte ohne die beschlossenen Bundeshilfen liquidiert werden müssen; der Kanton Neuenburg hätte die zugunsten der Bank bestehende Garantie honorieren müssen. Dabei war der Kanton und die beiden Gemeinden Le Locle und La-Chaux-de-Fonds bereits nicht mehr imstande, die selber eingegangenen finanziellen Verpflichtungen zu erfüllen.

Dennoch: Anstelle einer praktikablen gesetzlichen Regelung bei finanziellen Problemen eines Kantons vertraut der Bundesgesetzgeber darauf, dass bei Zahlungsproblemen von Kantonen politische Lösungen im Einzelfall gefunden werden können. Diese Lösungen müssten sich wahrscheinlich am Vorgehen der Bundesbehörden gegenüber dem Kanton Neuenburg 1935 orientieren.

Autor/in
Thomas Gattlen

Dr. iur. RA Thomas Gattlen

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