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Einführung der Notstundung ins SchKG (Symbolbild)

Der 12. Titel des geltenden SchKG heisst «Notstundung». In den Art. 337 ff. finden sich Regeln, die nur in ausserordentlichen Verhältnissen von der Kantonsregierung mit Zustimmung des Bundes für Schuldner eines bestimmten Gebietes und auf eine bestimmte Dauer für anwendbar erklärt werden (Art. 337 SchKG) können. Das erscheint sehr aussergewöhnlich und wird in diesem Beitrag beleuchtet.

Einführung der Notstundung ins SchKG

Die wichtigste Kodifikation des schweizerischen Zwangsvollstreckungsrechts ist das Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs (SchKG) vom 11. April 1889 (SR 281.1.). Das Gesetz beruht auf einem Vorschlag des Bundesrates vom 6. April 1886 (BBl 1886 II 1). In der Fassung des am 11. April 1889 beschlossenen Gesetzes enthielt der zwölfte Titel die Übergangsbestimmungen (BBl 1889 II 445, Seite 529 f., Art. 318 ff.).
In der ursprünglichen Fassung des Gesetzes gab es demnach keinen Abschnitt über die Notstundung. Allerdings hatte der Gesetzgeber im SchKG von 1889 einen Artikel 62 aufgenommen, der auch im aktuellen SchKG zu finden ist und damals lautete:

62
Im Falle einer Epidemie oder eines Landesunglücks, sowie in Kriegszeiten kann die Kantonsregierung mit Zustimmung des Bundesrathes für ein bestimmtes Gebiet oder für bestimmte Theile der Bevölkerung den Rechtstillstand beschließen.

(BBl 1989 II 445, Seite 459). Wie Art. 63 in der Fassung von 1889 entnommen werden kann, wurde der Fristenlauf durch den Rechtsstillstand allerdings nicht gehemmt, sondern die Fristen wurden bis zum dritten Tag nach Auslaufen des Rechtsstillstandes verlängert; eine Regelung notabene, an der sich bis heute nichts geändert hat.
Mit der «Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung zu dem Entwurf eines Bundesgesetzes betreffend Aenderung und Ergänzung des Schuldbetreibungs- und Konkursgesetzes» vom 11. April 1889» und dem damit unterbreiteten «Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Verordnung vom 4. April 1921 betreffend Aenderung und Ergänzung des Schuldbetreibungs- und Konkursgesetzes vom 11. April 1889» (BBl 1921 I 507) unterbreitete der Bundesrat dem Parlament einen Vorschlag zur Änderung des SchKG. Gleichzeitig beantragte er, «der gleichzeitig vorgelegten Notverordnung Ihre Sanktion zu verleihen.» (BBl 1921 I 507, Seite 514).
Vom Titel und einer Schlussbemerkung abgesehen wird im Text nicht zwischen «Botschaft» und «Bericht» unterschieden (BBl 1921 I 507, Seite 514). Botschaft und Bericht waren identisch.

Wirtschaftliches Umfeld des Vorschlags des Bundesrates

Das wirtschaftliche Umfeld wird in der Botschaft/dem Bericht wie folgt umschrieben:
«Der Weltkrieg mit seiner einschneidenden Wirkung auf unsere Wirtschafts- und Kreditverhältnisse zwang auch die Schweiz schon in den ersten Kriegsmonaten, ihre Bestimmungen über die Zwangsvollstreckung zu mildern und vor allem durch Stundungserleichterungen unverschuldet gefährdete Existenzen über Wasser zu halten. Die Notverordnung vom 28. September 1914 betreffend Ergänzung und Abänderung des Bundesgesetzes über Schuldbetreibung und Konkurs für die Zeiten der Kriegswirren sollte diesem Zwecke dienen. (…) Diese Kriegsbestimmungen, die zum Teil sich sehr wohltätig erwiesen hatten, zum Teil aber auch unrichtig und unsorgfältig angewendet worden waren, wurden nach Hinfall der Kriegsprämissen und Einholung gutachtlicher Äusserungen aus den Kantonen sukzessive abgebaut, zum Teil erst in der allerletzten Zeit.» (BBl 1921 I 507, Seite 507/508).
Es hatte sich gezeigt: Das SchKG war in wirtschaftlichen Krisen zu hart und musste deshalb zu Beginn des ersten Weltkriegs mit einer Notverordnung gemildert werden.
Aber: «Kaum war das Tor hinter der Notverordnung geschlossen, so pochte es aufs neue an die Türe der rechtsetzenden Bundesbehörden. Die Maul- und Klauenseuche mit ihren Verheerungen und Störungen, die Krise in der Uhren- und Stickereiindustrie riefen um Hilfe bei den Kantonen, beim Bundesrat. Man suchte mit Rat und Tat, vor allem durch Intervention bei Kreditinstituten zu helfen, womöglich ohne wieder ins ordentliche Rechtsleben eingreifen zu müssen. Aber immer dringlicher wurde trotzdem der Ruf auch nach neuen rechtlichen Massnahmen. Die Motion Duft, die kleine Anfrage Obrecht, das Postulat Nicolet im Nationalrate zielten auf solche Massnahmen ab.» (BBl 1921 I 507, Seite 508).
Der Bundesrat zögerte mit der Milderung der Zwangsvollstreckung, denn: «Vor allem sind wir uns klar darüber, dass jeder Eingriff in das Zwangsvollstreckungsverfahren, wenn einmal der Vollstreckungstitel unzweifelhaft gegeben und das Mahnverfahren mit seinen Fristen abgelaufen ist, normalerweise im Interesse der Rechtsordnung und einer zuverlässigen nationalen Wirtschaftsordnung zu vermeiden ist.» (BBl 1921 I 507, Seite 508). Eine wirksame Zwangsvollstreckung wurde vom Bundesrat also für eine funktionierende Rechts- und Wirtschaftsordnung als unerlässlich angesehen.

Vorschlag: Milderung zweier Bestimmungen im SchKG und Einführung der Notstundung

Der Bundesrat schlug deshalb vor, Art. 98 Absatz 3 SchKG so zu ändern, dass gepfändete, bewegliche Sachen nicht immer dann in Verwahrung des Betreibungsamtes zu nehmen waren, wenn der betreibende Gläubiger das verlangte, sondern nur, wenn dafür eine Notwendigkeit ersichtlich war (BBl 1921 I 507, Seite 510, Abschnitt 4).
Der Bundesrat schlug überdies vor, die Bestimmungen von Art. 123 SchKG zu mildern. Sie erlaubte es einem Betreibungsbeamten eine Verwertung hinauszuschieben, wenn der Schuldner monatliche Abschlagszahlungen leistete. Der Bundesrat schlug für diesen Verwertungsaufschub eine zeitliche Begrenzung von sieben statt drei Monaten vor (BBl 1921I 507, Seite 509, Abschnitt 3).
Diese beiden Änderungen halfen aber nicht in allen Fällen. Vor allem Arbeitgebenden schien so nicht geholfen werden zu können. Ihre Situation wurde in der Botschaft ausführlich beschrieben: «Er [der Arbeitgeber] will keinen Nachlass an der Kapitalforderung, er will nicht einmal einen Zinsverlust des Gläubigers; er braucht nur Luft, um sich erholen zu können. Für diese Fälle erscheint die Einführung einer Notstundung, wie wir sie nennen möchten, berechtigt, und zwar sowohl für die Betreibung auf Pfändung, als auf Konkurs.» (BBl 1921 I 507, Seite 511, Abschnitt 6).
Allerdings waren Schranken gegen Missbräuche zu setzen: Der Bundesrat sah deshalb vor, die Dauer einer Notstundung auf maximal sechs Monate zu begrenzen (BBl 1921 I 507, Seite 511). Vor allem aber: «Die wichtigste Schranke wollen wir dadurch setzen, dass die Wohltat überhaupt nicht nur an eine individuelle Vorprüfung, wie sie nach der Verordnung vom 28. September 1914 stattfand und heute auch wieder aufgenommen wird, gebunden sein soll, sondern an die objektive Konstatierung eines weiter um sich greifenden Notstandes, wie dies bei den Bestimmungen über den Rechtsstillstand vorgesehen ist. Es ist die kantonale Regierung, welche das Bedürfnis nach der Ausnahmemassregel feststellen und seine Ausdehnung sowohl räumlich, wenn nicht das ganze Kantonsgebiet in Frage kommt, als auch nach den Interessekreisen umschreiben soll. Die Notwendigkeit einer bundesrätlichen Genehmigung schafft eine weitere Garantie gegen allzu nachgiebige Behandlung nicht völlig berechtigter Gesuche.» (BBl 1921 I 507, Seiten 511/512).
Wie erwähnt: Zum Zeitpunkt, als die eidgenössischen Räte die Vorlage berieten, war sie in Form einer Notverordnung des Bundesrates materiell bereits in Kraft. Der Bundesrat versprach daher: «Sofern sie [die Mitglieder des Parlaments] sich aber damit [mit der Aufrechterhaltung der Notverordnung] einverstanden erklären, geben wir die ausdrückliche Erklärung ab, dass wir die Verordnung als solche nur solange bestehen lassen werden, bis das Schicksal der von den Räten durchberatenen Abänderung des Bundesgesetzes sich entschieden haben wird. Wird das Referendum dagegen ergriffen und die Vorlage vom Volke verworfen, so werden wir das auch als Entscheid über die Notverordnung respektieren und diese sofort ausser Kraft setzen. Nimmt das Volk die Vorlage ausdrücklich oder stillschweigend an, so gehen die Bestimmungen der Notverordnung ins ordentliche Recht über.» (BBl 1921 I 507, Seite 514).
Bereits während der Beratungen im Parlament erteilte der Bundesrat mit Beschluss vom 20. Juni 1921 seine Zustimmung zur Anwendung der Notverordnung für die in den Kantonen Zürich, Schwyz, St. Gallen, Thurgau und Appenzell A.-Rh. tätigen «Inhaber von Lohnstickereien (mit Schifili- oder Handstickmaschinen) sowie auf Lohnnähereien und Lohnausrüstereien, soweit mehrere solche Betriebe in den genannten Kantonen vorhanden sind, bis Ende April 1922.» (BBl 1921 II 638, Seite 639). Dieser Vorgang zeigt, wie dringlich die Notverordnung war.

Beschluss der eidgenössischen Räte vom 3. April 1924

Die Räte fassten ihre Beschlüsse über den Vorschlag des Bundesrates am 3. April 1924 (BBl 1924 I 611).
Sie nahmen den Änderungsvorschlag für die Art. 93 in etwas modifizierter Fassung an; im Wesentlichen erweiterten sie die Kompetenzen des Betreibungsbeamten. Bei der Änderung von Art. 123 SchKG setzten sie die Frist für den Verwertungsaufschub auf drei Monate fest, gestatten aber die Frist unter den Bedingungen der Notstundung auf sieben Monate anzusetzen (BBl 1924 I 611, Seiten 611/612).
In Art. 293 SchKG wurden die Absätze 2 und 3 gestrichen. Es war also nicht mehr bereits beim Einreichen des Gesuches um einen Nachlassvertrag die Zustimmung der Mehrheit der Gläubiger beizubringen, die zugleich mehr als die Hälfte der Forderungen vertraten (BBl 1924 I 611, Seite 612 III. Abschnitt). Damit wurde das Erreichen eines Nachlassvertrags nach den Art. 293 ff. SchKG erleichtert.
Wie vom Bundesrat beantragt wurde ein zwölfter Titel ins SchKG mit dem Titel «Notstundung» eingefügt; die Übergangsbestimmungen wurden in einen dreizehnten Titel verlegt. Die vom Bundesrat beantragten Bestimmungen über eine Notstundung wurde durch das Parlament anders geordnet, teilweise ergänzt und die Rechte der Gläubiger gestärkt. Ins Gesetz aufgenommen wurden sie als Art. 317a-317n SchKG (BBl 1924 I 611, Seiten 612-616).

Weitere Entwicklung

In der am 28 Januar 1949 beschlossenen Revision (Einführung des Nachlassvertrags mit Vermögensabtretung) wurde ein Art. 317o eingefügt, der das Verhältnis zwischen Konkursaufschub nach Art. 725 OR und der Notstundung regelte (BBl 1949 II 661).
Die Botschaft des Bundesrates über die Änderung des Bundesgesetzes über Schuldbetreibung und Konkurs (SchKG) vom 8. Mai 1991 (BBl 1991 III 1) beschrieb die Rechtsnatur der Notstundung und die vorgesehenen Änderungen: «Die Notstundung ist nach den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges 1924 ins SchKG aufgenommen worden. Sie stellt eine ausserordentliche Schutzmassnahme für den Schuldner dar. Glücklicherweise musste sie jedoch seit 1949 nicht mehr angewendet werden. Sie ist mit dem allgemeinen Rechtsstillstand (Art. 62) verwandt. Im Gegensatz zum generell wirkenden Rechtsstillstand bleibt die Notstundung jedoch eine individuelle Massnahme. Sie wird dem Schuldner vom Nachlassrichter in einem besonderen Verfahren bewilligt. Die Notstundung versteht sich also als eine Einzelstundung im Rahmen eines besonderen Moratoriums (Amonn, § 57 N Iff).
(…) Die Revision beschränkt sich auf eine Anpassung dieser Bestimmungen an andere geänderte Vorschriften und auf eine neue Nummerierung der Artikel. Die geltenden Artikel 317a-317o werden damit zu den Artikeln 333-346 (vgl. auch die Ausführungen unter Ziff. 210.1). Einzig die Artikel 335 Absatz l und 343 Absatz 5 sind im französischen Text redaktionell geändert worden.»
(BBl 1991 III 1, Seite 195, Ziffer 211)
Die parlamentarischen Beratungen verschoben die Regeln über die Notstundung in die Artikel 337-350 SchKG, ohne das inhaltliche Änderungen vorgenommen worden wären.

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