Frau sitzt in einem Rollstuhl auf einem Bahnhof Frau sitzt in einem Rollstuhl auf einem Bahnhof
Die Bestimmung des Invaliditätsgrades ist insbesondere dafür entscheidend, ob die versicherte Person Ansprüche gegenüber der Invalidenversicherung (IV) geltend machen kann oder nicht (Symbolbild).

Invalidität ist die voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde ganze oder teilweise Erwerbsunfähigkeit (Art. 8 Abs. 1 ATSG). Der Begriff der Invalidität umfasst nach dem klaren Wortlaut des Gesetzes mehrere Tatbestandsmerkmale, welche sich nach zutreffender Ansicht von KIESER wie folgt zusammenfassen lassen können (UELI KIESER, Schweizerisches Sozialversicherungsrecht, 2. A., Zürich/St. Gallen 2017, S. 257 N 109): Gesundheitliche Beeinträchtigung (medizinisches Element); Auswirkungen auf die Fähigkeit, erwerblich oder im Aufgabenbereich tätig zu sein (wirtschaftliches Element); Zusammenhang zwischen dem medizinischen und dem wirtschaftlichen Element; Dauerhaftigkeit der Beeinträchtigung (zeitliches Element).

Für die Bestimmung des Invaliditätsgrades wird das Erwerbseinkommen, das die versicherte Person nach Eintritt der Invalidität und nach Durchführung der medizinischen Behandlung und allfälliger Eingliederungsmassnahmen durch eine ihr zumutbare Tätigkeit bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage erzielen könnte (sog. Invalideneinkommen), in Beziehung gesetzt zum Erwerbseinkommen, das sie erzielen könnte, wenn sie nicht invalid geworden (sog. Valideneinkommen) wäre (Art. 16 ATSG). Für die Bemessung des Invaliditätsgrades ist gesetzlich somit ein Einkommensvergleich vorgesehen, welcher sich nach der folgenden Formel berechnen lässt (KIESER, a.a.O., S. 267 N 140):

(Valideneinkommen - Invalideneinkommen) x 100
Valideneinkommen

Der sich aus dieser Formel ermittelte Invaliditätsgrad ist insbesondere massgebend, ob die versicherte Person eine Invalidenrente erhält oder nicht (vgl. Art. 28 Abs. 2 IVG), wobei die nachfolgenden gesetzlichen Abstufungen zu berücksichtigen sind:

  • Eine (Viertels-)Rente wird grundsätzlich nur geltend gemacht werden können, sofern der Invaliditätsgrad mindestens 40 Prozent beträgt;
  • Eine halbe Rente wird nur bei einem Invaliditätsgrad von mindestens 50 Prozent geltend gemacht werden können;
  • Eine (Dreiviertels-)Rente wird nur bei einem Invaliditätsgrad von mindestens 60 Prozent in Anspruch genommen werden können;
  • Eine ganze Rente wird nur bei einem Invaliditätsgrad von mindestens 70 Prozent ausgerichtet werden.

Ferner ist der ermittelte Invaliditätsgrad von Belang, ob eine versicherte Person neben den bereits genannten Leistungen weitere Leistungen der Invalidenversicherung (IV) in Anspruch nehmen kann, wie zum Beispiel eine Umschulung (Art. 17 IVG): Von Gesetzes besteht ein Anspruch auf Umschulung auf eine neue Erwerbstätigkeit nur, sofern die Umschulung infolge Invalidität notwendig ist und die Erwerbsfähigkeit voraussichtlich zu erhalten oder zu verbessern vermag. Nach der Rechtsprechung ist die Notwendigkeit einer Umschulung nicht leichthin anzunehmen, sondern erst ab einem Invaliditätsgrad von rund 20 Prozent (vgl. BGE 124 V 108 E. 2b; Urteil des Bundesgerichts 8C_716/2016 vom 1. Februar 2017 E. 4.1.3), wobei der Schwellenwert von "rund" 20 Prozent als Richtschnur zu verstehen ist und daher rührt, dass die Leistungspflicht der IV für Eingliederungsmassnahmen (wie die Umschulung) unter Berücksichtigung der gesamten tatsächlichen und rechtlichen Umstände des Einzelfalls in einem angemessenen Verhältnis zum angestrebten Eingliederungsziel stehen muss (Urteil des Bundesgerichts 9C_623/2020 vom 8. März 2021 E. 4.1).

Herausforderungen

Die soeben dargestellte Ermittlung des Invaliditätsgrades erscheint in der Theorie oft einfach, wobei in der Praxis häufig grosse Herausforderungen bestehen, um den Invaliditätsgrad mittels des gesetzlich vorgesehen Einkommensvergleichs nach Art. 16 ATSG richtig bemessen zu können. Diese Herausforderungen ergeben sich insbesondere bei der Ermittlung des Valideneinkommens, wobei hier aus Sicht des Bundesgerichts in der Regel am zuletzt erzielten, nötigenfalls der Teuerung und der realen Einkommensentwicklung angepassten Lohn anzuknüpfen sei, da es empirischer Erfahrung entspreche, dass die bisherige Tätigkeit ohne Gesundheitsschaden fortgesetzt worden wäre; Ausnahmen hätten mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erstellt zu sein (BGE 139 V 28 E. 3.3.2). Das Valideneinkommen hat dabei so konkret wie möglich ermittelt zu werden (BGE 145 V 141 E. 5.2.1), wobei hierbei insbesondere sowohl Einkünfte aus Nebenerwerbstätigkeiten (Urteil des Bundesgerichts 9C_45/2008 vom 3. Juli 2008 E. 4.2) als auch regelmässig geleistete Überstunden miteinzubeziehen sind (Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts EVG I 357/01 vom 17. Dezember 2001 E. 3b).

Ferner bestehen spezialgesetzliche Anwendungsfälle, welche bei der Ermittlung des Invaliditätsgrades nach Art. 16 ATSG Schwierigkeiten bereiten können. Hierzu zählen exemplarisch der selbständig Erwerbstätige im Familienbetrieb (vgl. Art. 25 Abs. 1 i.V.m. Art. 25 Abs. 2 IVV); versicherte Personen ohne Ausbildung (vgl. Art. 26 IVV) und in Ausbildung begriffene versicherte Personen (vgl. Art. 26bis IVV) oder der Invaliditätsgrad bei Teilerwerbstätigen (vgl. Art. 27bis IVV). Vor allem der letztgenannte Anwendungsfall, die Ermittlung des Invaliditätsgrades bei Teilerwerbstätigen, bereitet in der Praxis häufig Probleme, weil hier eine besondere Methode zur Ermittlung des Invaliditätsgrades bei einer hypothetischen Erwerbstätigkeit im Vordergrund steht, welche ausschliesslich bei der IV zur Anwendung gelangt. Hingegen wird der Invaliditätsgrad in der Unfallversicherung (UV) und der beruflichen Vorsorge (bV) nur unter Berücksichtigung der Einbusse im erwerblichen Bereich ermittelt (UELI KIESER, Sozialversicherungsrecht in a nutshell, 4. A., Zürich/St. Gallen, S. 32).

Autor/in
Dr. iur. Marco Weiss

Dr. iur. RA Marco Weiss

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