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Videoaufzeichnung zum Beweis der Rechtzeitigkeit einer fristgerechten Postaufgabe (Symbolbild)

Ist eine Frist durch eine Eingabe zu wahren, muss die Eingabe spätestens am letzten Tag der Frist bei der Behörde eingereicht oder zu deren Handen der Schweizer Post übergeben werden. Was, wenn am Abend des Fristablaufs sowohl die Kanzlei der betreffenden Behörde als auch der Postschalter bereits geschlossen sind? In diesem Blogbeitrag wird der neue Bundesgerichtsentscheid 6B_1247/2020 vom 7. Oktober 2021 diskutiert, der sich u.a. mit der Frage beschäftigt, ob ein Videobeweis für die Rechtzeitigkeit einer Postaufgabe zulässig ist.

Problemstellung

Ist eine Frist durch eine schriftliche Eingabe zu wahren, muss die Eingabe spätestens am letzten Tag der Frist bei der zuständigen Behörde, z.B. einem Gericht, oder zu Handen der Behörde der Schweizer Post übergeben werden. Dieser allgemeine Grundsatz ist in diversen Verfahrensgesetzen normiert, insbesondere in der eidgenössischen Zivilprozessordnung (Art. 143 Abs. 1 ZPO), in der eidgenössischen Strafprozessordnung (Art. 91 Abs. 2 StPO) und im eidgenössischen Verwaltungsverfahrensgesetz (Art. 21 Abs. 1 VwVG).

In der Praxis kommt es vor, dass eine fristrelevante Eingabe direkt bei der betreffenden Behörde abgegeben wird. Um den Beweis für die rechtzeitige Abgabe der Eingabe zu sichern, wird von der Behörde eine schriftliche Empfangsbestätigung ausgestellt, die selbstverständlich sicher zu verwahren bzw. zu den Akten zu nehmen ist. Deutlich häufiger als die direkte Übergabe einer fristrelevanten Eingabe bei der betreffenden Behörde ist in der Praxis jedoch der Postversand entsprechender Eingaben. Erfolgt der Postversand spätestens am letzten Tag der Frist, wird der Beweis für die rechtzeitige Übergabe der Eingabe an die Schweizer Post üblicherweise durch die von der Post erstellte Empfangsquittung gesichert, welche die Post bei einem Versand der Eingabe per Einschreiben ausstellt. Für die Adressatin der Eingabe wird der rechtzeitige Versand der Eingabe durch den Poststempel bestätigt, der das Datum der Postaufgabe enthält und sich auf dem einschlägigen Umschlag befindet.

Obgleich man dies in der Praxis zu vermeiden versucht, kann es vorkommen, dass am Tag des Fristablaufs sowohl die Kanzlei der betreffenden Behörde als auch der Postschalter bereits geschlossen sind. Die Wahrscheinlichkeit für ein solches Szenario ist in der Stadt Zürich dadurch gestiegen, dass die Sihlpost ihre Öffnungszeiten im Zuge der Corona-Pandemie angepasst und abends auf 20:00 Uhr reduziert hat. In einer solchen «Not-Situation» bleibt dem Absender nichts anderes übrig, als die fristrelevante Eingabe in den Briefkasten der Behörde oder Post einzuwerfen und den Beweis für die fristgerechte Abgabe (Tag des Fristablaufs, vor 24:00 Uhr) auf andere Weise zu sichern. Eine Variante der betreffenden Beweissicherung bespricht das Bundesgericht in seinem neuen Leitentscheid 6B_1247/2020 vom 7. Oktober 2021.

Neuer Leitentscheid 6B_1247/2020

In diesem neuen Leitentscheid des Bundesgerichts stellt sich die Situation in Sachen Fristenthematik zusammengefasst folgendermassen dar: Die relevante strafrechtliche Beschwerdefrist lief am 24. August 2020 ab (Urteil 6B_1247/2020, Sachverhalt B). Aufgegeben wurde die Beschwerdeschrift durch Einwurf in einen Briefkasten am Tag des Fristablaufs, um 22:05 Uhr (a.a.O.). Um zu beweisen, dass die Beschwerdefrist entgegen des Poststempels (25. August 2020) wie erwähnt bereits am 24. August 2020 aufgegeben worden war, liess der Beschwerdeführer bzw. dessen Rechtsvertreter dem zuständigen Gericht auf einem USB-Stick eine Videoaufzeichnung vom betreffenden Posteinwurf zukommen (a.a.O.). Das Gericht trat trotzdem auf die Beschwerde nicht ein, weil die rechtzeitige Beschwerdeerhebung nicht nachgewiesen sei (a.a.O.). Gegen diesen Nichteintretensentscheid rekurrierte der Beschwerdeführer mit strafrechtlicher Beschwerde und subsidiärer Verfassungsbeschwerde ans Bundesgericht (Urteil 6B_1247/2020, Sachverhalt C).

In materiell-rechtlicher Hinsicht ruft das Bundesgericht in seinem hier besprochenen neuen Leitentscheid in einem ersten Schritt seine einschlägige Rechtsprechung in Erinnerung (Urteil 6B_1247/2020, E. 3.1). Eine Frist ist eingehalten, wenn die Eingabe spätestens am letzten Tag der Frist eingereicht wird, vor Mitternacht (a.a.O.). Die Beweislast für die Rechtzeitigkeit einer Eingabe obliegt der Partei bzw. ihrer Anwältin (a.a.O.). Es wird vermutet, dass der Poststempel mit dem Datum der Postaufgabe übereinstimmt. Diese Vermutung kann jedoch von der Partei, die eine bereits am Vortag erfolgte Postaufgabe geltend macht, mit allen geeigneten Beweismitteln umgestossen werden (a.a.O.). In zeitlicher Hinsicht weist das Bundesgericht darauf hin, dass eine entsprechende Partei gehalten ist, ihre betreffenden Beweismittel dem Gericht spätestens zusammen mit der fraglichen Eingabe vorzulegen, etwa durch einen auf dem Umschlag der Eingabe angebrachten Hinweis. In den Worten des Bundesgerichts lauten diese hier stichwortartig zusammengefassten Erwägungen folgendermassen (a.a.O.):

«Le délai est sauvegardé si l'acte est remis le dernier jour du délai à minuit […]. La preuve de l'expédition d'un acte de procédure en temps utile incombe à la partie, respectivement à son avocat. La date du dépôt d'un acte de procédure est présumée coïncider avec celle du sceau postal. La partie qui prétend avoir déposé son acte la veille de la date attestée par le sceau postal a cependant le droit de renverser cette présomption par tous moyens de preuve appropriés […]. L'avocat qui se contente de déposer son pli dans une boîte postale n'est pas sans connaître le risque qu'il court que ce pli ne soit pas enregistré le jour même de son dépôt, mais à une date ultérieure. S'il souhaite renverser la présomption résultant du sceau postal apposé sur l'enveloppe ayant contenu un acte de procédure, on est en droit d'attendre de lui qu'il indique spontanément - et avant l'échéance du délai de recours - à l'autorité compétente avoir respecté le délai, en présentant les moyens probatoires en attestant […]. Ainsi, il n'est pas admissible d'indiquer à l'autorité judiciaire, pour la première fois après l'expiration du délai de recours, que le pli litigieux aurait été déposé en présence de témoins, ou encore d'affirmer qu'il avait été déposé dans les délais tout en évoquant un enregistrement vidéo tenu à la disposition du Tribunal fédéral. Cette manière de faire ne permet pas de renverser la présomption découlant du sceau postal, ni celle de tardiveté du recours […]. Les parties doivent donc produire les preuves du dépôt en temps utile avant l'expiration du délai de recours, ou à tout le moins les désigner dans l'acte de recours, ses annexes, ou encore sur l'enveloppe […].»

Mit Blick auf den einschlägigen Sachverhalt stellt das Bundesgericht in einem zweiten Schritt fest, es sei wegen des Poststempels (25. August 2020, also einen Tag nach Fristablauf) zu vermuten, dass die betreffende Eingabe verspätet eingereicht wurde (Urteil 6B_1247/2020, E. 3.2). Bezüglich des dem Beschwerdeführer obliegenden, diese Vermutung umstossenden Beweises, dass die Eingabe bereits am 24. August 2020 der Post übergeben wurde, konstatiert das Bundesgericht, dass der Beschwerdeführer die vorstehend erwähnten, vom Bundesgericht aufgestellten Voraussetzungen erfüllt hat, namentlich die rechtzeitige Darlegung, weshalb die Eingabe trotz des Poststempels rechtzeitig eingereicht wurde (a.a.O.). Entscheidend für das Nichteintreten der kantonalen Vorinstanz war deren Auffassung, der Videoclip betreffend die Postaufgabe der fraglichen Eingabe sei kein taugliches Beweismittel, um die Rechtzeitigkeit der Postaufgabe zu beweisen (Urteil 6B_1247/2020, E. 3.3). In einem dritten Schritt befasst sich das Bundesgericht in seinem neuen Leitentscheid mit dieser Kernfrage, also wie es sich mit der erwähnten Auffassung der kantonalen Vorinstanz zur Beweismitteleignung einer entsprechenden Videoaufzeichnung verhält.

Im Ergebnis widerspricht das Bundesgericht der kantonalen Vorinstanz, die einer entsprechenden Videoaufzeichnung die Beweiseignung per se abgesprochen hat. Zwar stimmt das Bundesgericht der Vorinstanz zu, dass Videoaufzeichnungen relativ leicht manipuliert werden könnten (Urteil 6B_1247/2020, E. 3.5). Es geht jedoch mit dem Beschwerdeführer einig, dass es eine schwere Verletzung des Standesrechts darstellte, wenn eine Anwältin oder ein Anwalt einer Behörde eine manipulierte Videoaufzeichnung einreichte, um dieser weiszumachen, eine Eingabe sei fristgerecht erfolgt (a.a.O.). Vor diesem Hintergrund schliesst das Bundesgericht, dass eine entsprechende Videoaufzeichnung grundsätzlich ein taugliches Beweismittel für eine fristgerechte Postaufgabe darstellen kann, wenn (i) keine Hinweise auf eine Manipulation der Aufzeichnung vorliegen sowie (ii) aus der Aufzeichnung die relevanten Informationen hervorgehen; in den Worten des Bundesgerichts (a.a.O.):

«Dans cette mesure, sous réserve d'indices permettant de soupçonner que l'enregistrement vidéo a été trafiqué, il ne se justifie pas de douter, sur le principe, de la force probante de la séquence audiovisuelle produite par le conseil de la partie recourante. Ladite séquence doit naturellement contenir les éléments permettant d'établir le dépôt en temps utile du pli litigieux (soit: date et heure du dépôt, identification du pli contenant le recours). En conséquence, il n'y a pas lieu de tenir pour inopérant le moyen de preuve fourni par le recourant pour attester du dépôt de l'acte de recours en temps utile. Le recours est admis sur ce point et la décision entreprise annulée dans cette mesure. Il appartiendra à la cour cantonale d'examiner si le contenu de l'enregistrement produit par le recourant permet de conclure au respect du délai.»

Anschliessend an die vorstehende Erwägung äussert sich das Bundesgericht in einem relativ ausführlichen obiter dictum zu den allfälligen Kostenfolgen, die sich ergeben können, wenn eine Partei bzw. deren Anwältin oder Anwalt die Rechtzeitigkeit einer Postaufgabe durch die Mittel eines Zeugenbeweises oder einer Videoaufzeichnung zu beweisen trachtet (Urteil 6B_1247/2020, E. 4). Im Kern weist das Bundesgericht in diesem obiter dictum darauf hin, dass die mit der Abnahme entsprechender Beweise verbundenen Kosten als unnötige, den Parteien bzw. deren Vertretern aufzuerlegende Kosten betrachtet werden könnten (a.a.O.).

Schlussfolgerungen

Der in diesem Beitrag besprochene neue Leitentscheid 6B_1247/2020 des Bundesgerichts enthält zwei Kernaussagen: Einerseits die bundesgerichtliche Feststellung, dass Videoaufzeichnungen grundsätzlich ein taugliches Beweismittel sein können, die rechtzeitige Postaufgabe einer fristrelevanten Eingabe zu beweisen, also die auf einem Poststempel basierende Vermutung der verspäteten Postaufgabe zu widerlegen. Andererseits den in einem obiter dictum gemachten Hinweis, dass die mit der Abnahme eines entsprechenden Beweises verbundenen Kosten als unnötige, den Parteien bzw. deren Vertretern aufzuerlegende Kosten betrachtet werden könnten.

Die erste der vorstehend erwähnten Kernaussagen des Bundesgerichts verdient nach hier vertretener Auffassung Zustimmung. Sowohl im Schweizer Straf- (Art. 10 Abs. 2 StPO) als auch Zivilprozessrecht (Art. 157 ZPO) gilt das Prinzip der freien Beweiswürdigung. Wenn nun eine dem Schweizer Standesrecht unterworfene Anwältin einer Behörde eine von ihr erstellte oder verantwortete Videoaufzeichnung über eine zu einem bestimmten Zeitpunkt erstellte Postaufgabe einreicht, dann ist – unter Vorbehalt von Hinweisen auf eine Manipulation einer solchen Aufzeichnung – dieses Beweismittel nach Treu und Glauben dahingehend zu würdigen, dass es den Beweis für die betreffende Postaufgabe grundsätzlich zu erbringen geeignet ist. Diesbezüglich ist hervorzuheben, dass der Grundsatz von Treu und Glauben nicht nur in der Bundesverfassung (Art. 5 Abs. 3 und Art. 9 BV), sondern spezifisch auch in der Straf- (Art. 3 Abs. 2 lit. a StPO) und Zivilprozessordnung (Art. 52 ZPO) verankert ist. Es wäre nach hier vertretener Auffassung nicht mit dem Grundsatz von Treu und Glauben vereinbar, Anwältinnen und Anwälten ohne spezifische Verdachtsmomente sozusagen per se zu unterstellen, von ihnen erstellte oder verantwortete Videoaufzeichnungen seien möglicherweise manipuliert und deshalb beweisuntauglich. Eine solche Auffassung wäre nach Auffassung des Autors auch weltfremd, dürfte es doch – wenn überhaupt – nur äusserst selten vorkommen, dass ein dem Schweizer Standesrecht unterstehender Anwalt das erhebliche Risiko einer entsprechenden Handlung eingeht. Einer entsprechenden Manipulation überführt, dürfte die standesrechtliche Sanktion sehr harsch ausfallen, möglichweise bis zum Entzug des Anwaltspatentes. Dies dürfte eine entsprechend hohe Abschreckungswirkung entfalten.

Die zweite bundesgerichtliche Kernaussage im hier besprochenen neuen Leitentscheid, wonach die mit der Abnahme eines entsprechenden Videobeweises verbundenen Kosten als unnötige, den Parteien bzw. deren Vertretern aufzuerlegende Kosten betrachtet werden könnten, ist nach hier vertretener Auffassung weniger überzeugend. Dies primär deshalb, weil die Prüfung einer entsprechenden Videoaufzeichnung nicht besonders aufwändig ist und entsprechend kaum quantifizierbare Mehrkosten verursachen dürfte. Anders dürfte dies bei einer Abnahme von entsprechenden Zeugenbeweisen zu beurteilen sein, da der diesbezügliche Aufwand deutlich grösser ist und aufgrund der Zeugenentschädigung auch regelmässig zu quantifizierbaren Mehrkosten führen dürfte. Aber wenn ein Behördenmitglied einen kurzen, per USB-Stick oder allenfalls auch per E-Mail übermittelten Videoclip über eine Postaufgabe betrachten muss, dürfte dies im Lichte des Gesamtaufwands in zeitlicher Hinsicht kaum ins Gewicht fallen, womit nach hier vertretener Auffassung fraglich ist, ob dem betroffenen Rechtsvertreter wegen eines entsprechenden Videobeweises einer Postaufgabe tatsächlich Zusatzkosten auferlegt werden sollten. Ohnehin scheint das einschlägige obiter dictum auf die Befürchtung des Bundesgerichts zurückzuführen zu sein, dass von einem entsprechenden Videobeweis seitens der Anwaltschaft zu häufig Gebrauch gemacht werden könnte. Entsprechende Befürchtungen dürften übertrieben und nicht realistisch sein. Der Aufwand für die Erstellung und den Versand entsprechender Videoclips steht in keinem Verhältnis zu einer normalen fristwahrenden Postaufgabe, weshalb Parteien bzw. deren Vertreter in der Praxis wohl nur in Notfällen von einer solchen Postaufgabe bzw. Beweisführung Gebrauch machen dürften.

Interessant und relevant ist der hier diskutierte neue Leitentscheid 6B_1247/2020, der in einem Strafverfahren erging, auch für Zivilprozesse, sind die relevanten Fragen doch analog zu beantworten, insbesondere gestützt auf die in Zivilprozessen ebenfalls massgebliche freie Beweiswürdigung.

Aus praktischer Sicht ist zu unterstreichen, dass ein entsprechender Videoclip inhaltlich die relevanten Informationen selbstredend wiedergeben muss, inklusive Datum und Zeitpunkt der Postaufgabe, Inhalt des Briefumschlags etc.

Im Sinne einer Quintessenz kann nach hier vertretener Auffassung abschliessend festgehalten werden, dass es zu begrüssen ist, dass das Bundesgericht mit seinem neuen Leitentscheid 6B_1247/2020 bestätigt, dass die Rechtzeitigkeit einer fristgerechten Postaufgabe einer Eingabe grundsätzlich auch mit einer Videoaufzeichnung bewiesen werden kann. Ein solcher Videobeweis dürfte in einer entsprechenden Notsituation (Aufgabe einer fristrelevanten Eingabe nach Schalterschluss) zu den früher in entsprechenden Situationen geführten Zeugenbeweisen eine willkommene und auch weniger aufwändige Alternative darstellen.

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