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Notrecht ist Instrumentarium zur Bewältigung ausserordentlicher Situationen. (Symbolbild)

Mit Notrecht reagiert, wer einem unvorhersehbaren Zustand Herr werden muss. Ein unvorhersehbarer Zustand, der fundamentale eigene oder fremde Rechtsgüter schwerwiegend bis existentiell bedroht. Ein plötzlicher, existenzgefährdender Zustand, der einzelne Träger von Rechtsgütern oder die dafür Verantwortlichen zum umgehenden Handeln zwingt. Notrecht ist Instrumentarium zur Bewältigung ausserordentlicher Situationen. In der Schweiz geschieht hier zurzeit Historisches – die Staatsgewalten spannen zusammen und koordinieren das vorhandene Instrumentarium. Es zeichnet sich ein möglichst gesetzmässiger und legitimer Notrechtsgebrauch ab. Allerdings gilt es zu beachten: Notrecht ist ein Chamäleon.

Juristische Expertise gefragt

Dieser Tage sind auf der ganzen Welt Experten gefragt. Man will wissen, weshalb die Welt Kopf steht. Die Epidemiologie soll erklären, wie man die Pandemie bekämpft. Die Wirtschaftswissenschaften erklären, wie man den wirtschaftlichen Folgen der Krise begegnet. Philosophie und Literaturwissenschaften glauben erklären zu können, wie die Welt nach COVID-19 aussieht. Die Juristen werden zum notrechtlichen Handeln der Regierung befragt. Man will von ihnen wissen, was noch zulässig ist und was nicht. In der Schweiz antworten sie darauf, dass sich bei einer schweren Störung der öffentlichen Ordnung die Kompetenzen auf die Landesregierung verschieben und dass damit eine erhöhte Reaktionsfähigkeit des Staates, aber auch eine Machtfülle entsteht. Es seien einzelne Befugnisse des Parlaments und der Kantone, die auf die Landesregierung übergehen. Grundrechte würden weitergelten und die verfassungsmässige Ordnung bleibe aufrechterhalten. Mit Notrecht sei dennoch fast alles erlaubt, sofern es jedenfalls im öffentlichen Interesse verordnet wird und das Prinzip der Verhältnismässigkeit eingehalten ist. Dies sind alles wichtige und richtige Informationen. Was aber derzeit von Juristen klar gemacht werden müsste, ist, dass sich gerade Historisches ereignet.

Ein noch nie dagewesenes Zusammenspiel der Staatsgewalten

Im Gegensatz zum eigentlichen Staatsnotrecht, auf das man sich etwa im zweiten Weltkrieg berufen musste, kommen derzeit in der Coronakrise Instrumente der ausserordentlichen Situationsbewältigung zum Einsatz, die von der Verfassung vorgesehen und in einzelnen Abläufen im Gesetzesrecht konkretisiert sind. Juristen können entsprechend konkrete Aussagen treffen und erklären, wie und wann es den bundesrätlichen Notrechtsgebrauch zu beenden gilt oder wie die Kompetenzen der Regierung mit jenen des Parlaments zusammengehen. Genau hier gibt es zurzeit Historisches zu erläutern. Seit kurzem ist nämlich klar, dass die Bundesversammlung, welche konkurrierend und parallel zum Bundesrat Notrecht erlassen kann, noch inmitten der Krise aktiv wird – und dabei vom Bundesrat unterstützt wird! Dies ist daher erstaunlich, weil das parlamentarische Notrecht der Bundesverfassung im Grunde eine Fehlkonstruktion ist. Parlamentarisches Notrecht kam noch nie zum Einsatz, weil man damit zu langsam auf Notstände reagiert. Da nun aber seit einiger Zeit auf Gesetzesstufe vorgesehen ist, dass Notverordnungen des Bundesrates innert sechs Monaten in Erlasse der Bundesversammlung übergehen müssen, kommt es in der aktuellen Krise zu einer historischen Dynamik. In einem Zusammenspiel der Staatsgewalten sollen parlamentarische Notverordnungen in einer ausserordentlichen Session Anfang Mai von der Bundesversammlung beschlossen werden. Entworfen werden sie derzeit von Exekutive und Legislative. Die Krise bringt also einen partnerschaftlichen Austausch von exekutiver und legislativer Staatsgewalt hervor. Es wird offenbar, was in einem Rechtsstaat im Krisenmodus möglich und einer Demokratie würdig ist.

Die Notwendigkeit des inter- bzw. transdisziplinären Diskurses

Es ist ein hehres Ziel der Bundesversammlung, die bisherigen notrechtlichen Massnahmen des Bundesrates zu justieren und allfällige Lücken zu schliessen. Die wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Massnahmen des bundesrätlichen Notverordnungsrechts sind möglichst bald in einer ausserordentlichen Session mit den Beschlüssen der Bundesversammlung weitergehend zu legitimieren. Wenn dies geschieht, handelt es sich um die gesetzmässigste und wohl legitimste Form des Notrechtsgebrauchs überhaupt. Man scheint in der Schweiz insofern auf gutem Weg zu sein, die rechtliche Krise vorbildlicher als anderorts auf der Welt zu meistern.

Dennoch bleibt Notrecht ein Chamäleon. Es manifestiert sich in unterschiedlichen Formen und muss immer in den Kategorien von Legalität, Legitimität und Missbrauch zugleich gedacht werden. Entscheidend für die Frage, was man vorfindet, sind die geschaffenen Tatsachen. Sobald eine Notrechtsanwendung nämlich juristisch nicht (mehr) erfassbar oder nicht (mehr) rechtfertigungsfähig ist, sind es nicht mehr die Juristen alleine, die dazu sprechen sollen. Es geht oftmals nicht um Legalität, sondern um die Frage nach Legitimität oder nach Missbrauch. An die Stelle juristischer Expertise tritt dann der inter- bzw. transdisziplinäre Diskurs der Öffentlichkeit, der von Anbeginn einer Krise möglichst frei abgehalten werden muss. Aus diesem Grund ist es immanent wichtig, dass über notrechtliche Massnahmen eine Diskussion in der Öffentlichkeit, den Medien und den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen stattfindet. Im so wichtigen kritischen Austausch über Notrecht hat es dann auch Platz, das historische Zusammenspiel der Staatsgewalten zu beklatschen.

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