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Vorsicht mit privaten Kurierdiensten in Schweizer Zivilverfahren (Symbolbild)

Dass die Einhaltung von Fristen in Zivil- und anderen Verfahren von grundlegender Bedeutung ist, dürfte sich von selbst verstehen. Verpasst eine Partei eine Frist, kann dies schwerwiegende Rechtsnachteile zur Folge haben. Wird etwa eine Berufungsschrift später als in Art. 311 Abs. 1 ZPO vorgesehen bei der kantonalen Berufungsinstanz eingereicht, tritt diese auf die Berufung nicht ein, womit der erstinstanzliche Entscheid rechtskräftig wird, auch wenn die Berufung gute oder sogar sehr gute Chancen auf Gutheissung gehabt hätte.

Das Obergericht des Kantons Zürich hat am 29. Dezember 2022 einen interessanten Beschluss veröffentlicht, in dem es genau um die Frage geht, ob im betreffenden Fall die Berufungsfrist nach Art. 311 Abs. 1 ZPO eingehalten wurde (Beschluss NE220001 vom 7. Oktober 2022; hiernach: der «Beschluss»). Dieser Beschluss beleuchtet zwei interessante und praxisrelevante Aspekte bezüglich der Einhaltung von zivilprozessualen Fristen, die in diesem Beitrag diskutiert werden sollen.

Das Problem bei der Zustellung der Berufungsschrift im Fall NE220001

Für die Zwecke dieses Beitrags wird auf eine Darstellung des Hintergrunds des einschlägigen Rechtsstreits verzichtet. Hier interessiert uns nur, warum die Frage der Einhaltung der oben erwähnten Berufungsfrist zwischen den Prozessparteien strittig ist.

Zwischen den Prozessparteien erging ein erstinstanzliches Urteil vom 22. Dezember 2021, das der Beklagten am 25. Januar 2022 zugestellt wurde (Beschluss, Erwägungen 1.2 f.). Gegen dieses Urteil erhob die Beklagte Berufung, womit die Berufung gemäss Art. 311 Abs. 1 ZPO spätestens am 24. Februar 2022 entweder direkt bei der Berufungsinstanz eingereicht oder zu deren Handen der Schweizer Post übergeben werden musste (Art. 143 Abs. 1 ZPO). Dies hat im betreffenden Streitfall nicht geklappt. Die Beklagte gab ihre Berufungsschrift zwar am letzten Tag der Berufungsfrist bei der Schweizer Post auf, nur konnte die Post die Berufungsschrift der Berufungsinstanz nicht zustellen, wegen nicht vorhandener Anschrift. Vermutlich hatte sich die Anschrift bzw. Adressetikette mit den Adressinformationen des zuständigen Gerichts auf dem Umschlag oder Paket gelöst. Ihren zweiten Zustellungsversuch unternahm die Beklagte dann nicht mittels der Schweizer Post, sondern mittels eines privaten Kurierdienstes.

Im Beschluss wird der vorstehend zusammengefasste Vorgang folgendermassen geschildert (Erwägung 1.3, S. 3):

«Die Berufungsschrift datiert vom 24. Februar 2022 und wurde der Berufungsinstanz am 2. März 2022, 14.40 Uhr, per Kurier überbracht […]. Beigelegt war ein Begleitschreiben des beklagtischen Rechtsvertreters vom 2. März 2022, in welchem dieser ausführte, dass die Berufungsschrift fristgerecht am 24. Februar 2022 der Schweizerischen Post übergeben worden sei, die Post das Paket am 2. März 2022 aber als unzustellbar retourniert habe, weil offenbar die (Adress-)Etikette abgerissen sei. Deshalb reiche er die Berufung vom 24. Februar 2022 erneut in unveränderter Form – als ungeöffnetes Paket, das retourniert worden sei – ein. Zugleich ersuchte er um Bestätigung, dass die Berufungsfrist gewahrt sei […].»

Die Erwägungen des Obergerichts Zürich

Das Obergericht Zürich trat auf die Berufung wegen verpasster Frist nicht ein, und zwar im Kern auf der Grundlage der nachfolgend zusammengefassten Argumentation.

Das Bundesgericht hat in verschiedenen Urteilen entschieden, dass «eine Eingabe (ungeachtet des Zeitpunkts ihres tatsächlichen Eintreffens beim Gericht) auch dann als am letzten Tag der Frist zu Handen des Gerichts der Schweizerischen Post übergeben und damit fristwahrend im Sinne von Art. 143 Abs. 1 ZPO [gilt], wenn sie nicht resp. ungenügend frankiert […] oder mit einer falschen Gerichtsadresse versehen ist […], aus diesem Grund von der Post an den Absender retourniert und die identische Eingabe daraufhin mittels erneuter Postaufgabe dem Gericht zugestellt wird» (Beschluss, Erwägung 3.4.1). Dieses Abstellen gemäss der bundesgerichtlichen Praxis auf die Übergabe einer Eingabe an die Schweizerische Post wird als Expeditionsprinzip bezeichnet. Der vorliegende Sachverhalt liegt zwar etwas anders, weil die Zustellung im ersten Anlauf nicht wegen einer ungenügenden Frankierung oder falschen Gerichtsadresse schiefgegangen ist, sondern wegen einer sich vom betreffenden Paket gelösten Adressetikette. Das Obergericht Zürich schloss jedoch zutreffend, dass auch ein solches Malheur nach der geschilderten bundesgerichtlichen Praxis zu behandeln ist, dass also auch bei einem solchen Fehlversuch einer postalischen Zustellung das Expeditionsprinzip zur Anwendung kommen muss (Beschluss, Erwägung 3.4.1, S. 7 f.): «Mit einer falschen Adressierung, die eine Zustellung der Sendung an den Empfänger verunmöglicht, vergleichbar und deshalb gleich zu behandeln ist der im Wesentlichen identisch gelagerte Fall, in dem eine Sendung – wie vorliegend – von der Post zwar zur Beförderung entgegengenommen, später aber mit dem Vermerk ‘Adresse fehlt/unleserlich’ an den Absender retourniert wurde, weil sich die auf dem Paket angebrachte Adressetikette […] bei deren Bearbeitung oder beim Transport durch die Post offenbar abgelöst hatte und der Empfänger deshalb nicht mehr erkennbar war […]. Der Mangel ungenügender bzw. fehlender Frankierung oder falscher resp. fehlender Adressierung ist mithin verbesserlich.»

So weit, so unproblematisch, könnte man sagen. Problematisch wird es beim nächsten argumentativen Schritt des Obergerichts Zürich. Im Kern und Ergebnis erwägt das höchste Gericht des Kantons Zürich, dass die Berufungsfrist deshalb verpasst wurde, weil die betreffende Partei nach dem gescheiterten ersten Zustellungsversuch nicht weiter die Schweizerische Post, sondern bei ihrem zweiten Anlauf eine privaten Kurierdienst in Anspruch nahm. Um zu diesem Resultat zu kommen, kombiniert das Obergericht Zürich zwei Elemente.

Erstens erwägt das Obergericht Zürich, unter Verweis auf verschiedene Lehrmeinungen, dass das vorstehend geschilderte Expeditionsprinzip nur dann greift, wenn eine Eingabe der Schweizer Post übergeben wird, nicht jedoch, wenn private, nicht für die Post tätige Kurierdienste verwendet werden (Beschluss, Erwägung 3.4.3):

«Wie die Klägerin zutreffend ausführt […], findet das in Art. 143 Abs. 1 ZPO statuierte Expeditionsprinzip nur bei Einreichung einer Eingabe auf dem Postweg, d.h. bei Übermittlung durch die Schweizerische Post (einschliesslich deren Kurierdienst) Anwendung. Es greift nicht bei Inanspruchnahme anderer, insbesondere privater Zustell- und Kurierdienste, es sei denn, diese seien von der Post beauftragt worden […]; Letzteres trifft bezüglich des vorliegend beigezogenen Kurierdienstes (swissconnect/KurierZentrale Basel/SBB) aber nicht zu und wird von der Beklagten auch nicht geltend gemacht.»

Offensichtlich auf den Wortlaut von Art. 143 Abs. 1 ZPO abstellend («Schweizerischen Post»), betrachtet das Obergericht Zürich den zweiten Zustellungsversuch mittels eines privaten Kurierdiensts als nicht mehr vom Expeditionsprinzip erfasst, weshalb es diesen zweiten Zustellungsversuch nicht mehr als Einheit mit dem ersten, vor Fristablauf gelegenen Zustellungsversuch, sondern als neue Zustellungsbemühung qualifiziert.

Das zweite Element, auf welches das Obergericht Zürich im hier diskutierten Zusammenhang abstellt, ist ein Urteil des Bundesgerichts vom 26. Februar 2015 (Beschluss, Erwägung 3.4.3, S. 9 in fine). In diesem Urteil 4A_374/2014 hatte die betreffende Partei bzw. deren Rechtsvertreter nach einer wegen unzureichender Frankierung nicht erfolgreichen Postzustellung die Beschwerdeschrift an das Bundesgericht nach Ablauf der Beschwerdefrist persönlich abgegeben, was das Bundesgericht für unzulässig taxierte (Urteil 4A_374/2014, Erwägung 3.2). Das Bundesgericht erwog in diesem Urteil, die betreffende Partei habe die beiden Zustellungsoptionen gemäss Art. 143 Abs. 1 ZPO (Übergabe an das Gericht oder an die Schweizerische Post zuhanden des Gerichts) kombiniert, was nicht zulässig sei (a.a.O.).

Für das Obergericht Zürich ist gemäss seinem hier diskutierten Beschluss NE220001 vom 7. Oktober 2022 der vorliegende Sachverhalt (erfolgreiche Zustellung im zweiten Anlauf durch einen privaten Kurierdienst) somit gleich zu beurteilen, wie der Sachverhalt im bundesgerichtlichen Urteil 4A_374/2014 (erfolgreiche Zustellung im zweiten Anlauf durch Übergabe an das Bundesgericht).

Auf der vorstehend dargelegten Argumentationsgrundlage kommt das Obergericht Zürich zu folgender Schlussfolgerung (Beschluss, Erwägung 3.4.3, S. 10 f.):

«Die Beklagte hätte demnach die von ihr gewählte Einreichungsart (Postaufgabe am letzten Tag der Frist) beibehalten und die zunächst gescheiterte postalische Übermittlung ihrer Eingabe per Post fortsetzen müssen. Hierfür hätte sie die Sendung neu adressieren und nochmals der Post übergeben, d.h. den von ihr gewählten (zweiten gesetzlichen) Zustellungsweg fortsetzen müssen. […] Stattdessen liess die Beklagte die Eingabe direkt (per Kurier) dem Gericht überbringen, wo sie jedoch erst nach Fristablauf eintraf. Damit erweist sie sich als verspätet eingereicht […], und zwar ungeachtet dessen, ob diese Weiterleitung der Sache nach […] als direkte Einreichung beim Gericht oder aber als Übergabe an einen privaten Kurierdienst zu Handen des Gerichts […] zu betrachten ist. So oder anders durchbrach das gewählte Vorgehen die Einheit der begonnenen und aufgrund der Retournierung verlängerten Prozesshandlung (Einreichung der Berufungseingabe durch Inanspruchnahme der Schweizerischen Post gemäss Art. 143 Abs. 1 Variante 2 ZPO) und unterband damit deren Fortsetzung und Vollendung. Entgegen dem beklagtischen Fazit […] sind die vom Bundesgericht in seiner aktuellen Rechtsprechung festgehaltenen Voraussetzungen für die Fristwahrung bei gescheiterter Erstzustellung nicht erfüllt. Die Berufung erweist sich somit als verspätet.»

Kommentierung der Erwägungen des Obergerichts Zürich

Der hier diskutierte Beschluss NE220001 des Obergerichts Zürich ist noch nicht rechtskräftig. Die betroffene Partei hat den Beschluss an das Bundesgericht weitergezogen (5A_866/2022; derzeit pendent), was im Lichte des einschlägigen Streitwerts von rund CHF 45 Mio. nicht überrascht. Auf die Beurteilung des Bundesgerichts kann man somit in jedem Fall gespannt sein.

Im Ergebnis erscheint der Beschluss stossend. Die betreffende Prozesspartei wollte es nach dem erfolglosen ersten Zustellungsversuch per Post wohl besonders gut machen und hat das betreffende Paket nicht einfach nochmals per Post, sondern dem Gericht durch einen privaten Kurierdienst zustellen lassen. Dass ihr dies im Lichte der obergerichtlichen Erwägungen zum Verhängnis werden soll, ist nicht einfach nachzuvollziehen. In diesem Zusammenhang ist auch zu bedenken, dass das Zivilprozessrecht der Verwirklichung des materiellen Rechts zu dienen hat, womit ein doch sehr formalistisch erscheinendes Ergebnis nur schwierig in Einklang zu bringen ist. Auf der anderen Seite spricht der Wortlaut von Art. 143 Abs. 1 ZPO hinsichtlich des Expeditionsprinzips in der Tat für eine Privilegierung der Schweizerischen Post, und es ist dem Obergericht Zürich zuzugeben, dass das bundesgerichtliche Urteil 4A_374/2014 das Bestehen dieses Prinzips effektiv davon abhängig macht, dass die Zustellungsalternativen gemäss der erwähnten ZPO-Bestimmung nicht kombiniert werden. Vor diesem Hintergrund ist nachvollziehbar, dass das Obergericht Zürich es dem Bundesgericht zu überlassen wünscht, seine Praxis zu Art. 143 Abs. 1 ZPO einer Prüfung zu unterziehen. De lege ferenda sollte das Parlament nach hier vertretener Auffassung in Erwägung ziehen, die in Art. 143 Abs. 1 ZPO hinsichtlich des Expeditionsprinzips vorgesehene Privilegierung der Schweizerischen Post abzuschaffen. Ein objektiver oder gar zwingender Grund für diese Privilegierung dürfte nicht bestehen, und die Probleme, die hieraus in der Praxis resultieren können, werden von diesem neuen Beschluss NE220001 des Obergerichts Zürich eindrücklich illustriert.

Aus praktischer Sicht mahnt der hier diskutierte Beschluss des Obergerichts Zürich dazu, einen nicht erfolgreichen Zustellungsversuch durch die Schweizerische Post unbedingt durch die Schweizerische Post zu wiederholen und im zweiten Anlauf nicht eine andere Zustellung (privater Kurier oder direkte Übergabe an das Gericht) vorzunehmen.

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